Freier Wille

In den westlichen analytisch-modernen Theorien des Bewusstseins, also denen, die sich als empirisch-wissenschaftlich verstehen, wird immer von einer Korrelation zwischen Materie und Bewusstsein ausgegangen. Das ist an sich relativ unstrittig, da eigentlich die allermeisten Gedankengebäude davon ausgehen. Geburt und Tod markieren die Eckpunkte dieser Korrelation.

Nun stellt sich die Frage, wie sieht diese Korrelation aus? Bestimmt das Bewusstsein die Materie, oder die Materie das Bewusstsein, oder ist es eine Wechselwirkung?

3 Varianten der Relation zwischen Bewusstsein und Materie

Die erste Variante, dass Bewusstsein Materie bestimmt, ist eine Position, die wir in den meisten spirituellen Gedankengebäuden finden, aber auch in einer analytischen Transzendentalphilosophie oder Idealismus. Bewusstsein ist hier eine eigene Kraft, die aus sich selbst heraus agiert und gegebenenfalls in einem höheren Bewusstsein verankert ist. Diesen Gedankengebäuden ist es gemeinsam, dass sie von einem selbst im Sinne eines autonomen Ichs oder einer Seele ausgehen.

Die zweite Variante finden wir in materialistischen Gedankengebäuden, also den strikt empirischen Theorien, oder analytisch reduktionistischen Gedankengebäuden. Biologische Wesen sind allein durch materialistische Prozesse bestimmt. Bewusstsein ist ein Luxus und rennt den materialistischen Prozessen hinterher. Es gibt keinen freien Willen, dieser ist eine Illusion, der eventuell einen evolutionären Vorteil bringt, aber mehr nicht.

Die dritte Variante, die der Wechselwirkung ist das, was unserer Alltagsempfindung am nächsten ist. Wir fühlen uns manchmal getrieben durch unsere materielle Existenz, d. h. durch unseren Körper oder Zwänge unserer Umwelt. Wir haben das Gefühl, dass wir automatisch funktionieren. Zugleich haben wir aber auch Erfahrungen des freien Willen, wenn wir uns z. B. nicht entscheiden können, oder gewohnte Bahnen verlassen, so denken wir, das sind freie Entscheidungen.

Was heißt das?

In der empirischen Wissenschaft wird oft angebracht, dass es viele Studien gibt, die die zweite Variante stützen. Im Kern sehen die Versuche so aus: Ein Mensch wir an ein EEG angeschlossen, d. h. seine Gehirnströme werden gemessen. Das geht auch etwas differenzierter mit Computertomografie. Dann werden die Versuchspersonen gebeten, eine Entscheidung zu treffen. Wenn nun auf den Messgeräten ein Ausschlag zu sehen, ist, der anzeigt, dass die Entscheidung im Gehirn gefallen ist, und diese Messung der bewusst mitgeteilten Entscheidung der Versuchsperson vorausgeht. Dann, so die Behauptung, sei der freie Wille eine Illusion. Wichtig ist dabei, dass es überhaupt einen Zeitunterschied gibt, nicht wie lang die Zeitdifferenz ist. Das bewegt sich ohnehin im Millisekundenbereich.

Wie sähe das Gegenmodell aus, also die erste Variante? Die Versuchsperson würde eine Entscheidung treffen, sie äußern, und dann würde das Gehirn den Befehl ausführen. Und wie sähe das empirisch aus? Das Bewusstsein verändert den Sinnesapparat, den Körper, um einen Gedanken, d. h. eine Entscheidung, auszudrücken, die einerseits schon gefallen ist, anderseits noch nicht physisch materialisiert ist. Während dem Ausdrücken des Gedankens wird die Entscheidung auf neuronaler Ebene erst umgesetzt.

Die dritte Variante, die der Wechselwirkung, ist die schwierigste. Zwei sehr unterschiedliche System werden hier als interagierend angenommen. Das eine die physikalisch, biochemische Welt, das andere die Welt des menschlichen Bewusstseins. Eine wichtige Frage ist hier die nach dem Bindeglied. Wie sieht die Brücke aus? Eine Annahme ist, dass beide Systeme letztlich logisch sind, d. h. sowohl einerseits empirisch wissenschaftlich also auch anderseits rational.

Würfelt Gott?

Einstein sagte sinngemäß, Gott würfelt nicht. Das fasst das Paradox eigentlich ganz schön zusammen. Gott, der das Universum erschuf und mit ihm die Würfel und die Gesetzte des Zufalls, unterliegt ihnen nicht.

In den Vedas ist das ausgedrückt durch die Relation von Brahman (Universales Selbst, nicht im Sinne eines persönlichen Gottes), Puruscha (Bewusstsein) und Prakriti (die materielle Welt in Bewegung, Natur). In dieser Dreierrelation erscheint Atman, das individualisiert selbst (allerdings nicht im personalisierten Sinn)1.

Es ist erstaunlich, wie differenziert die Rishis, also die Seher, vor über 3000 Jahren die Relation zwischen Bewusstsein und Materie in tiefer Meditation gesehen haben. Ihre Sichtweise, dass der Evolution ein Involution vorausgeht, klingt heute befremdlich, beschreibt aber eigentlich nur jenes wechselseitige Verhältnis, die Wechselwirkung zwischen Bewusstsein und Materie in einer zeitlichen Streckung.

Bewusstseinebenen

Der Anfang liegt nicht im Urknall, sondern im gemeinsamen Grund von Materie und Bewusstsein. Das können wir Logik, Gesetz, Rationalität, Brahman, Schöpfer, Nirwana nennen, das ist eigentlich an dieser Stelle erst mal egal, wir es hier mit a priori zu tun. Nicht im epistemologischen Sinn, sondern im ontologischen.

Naturgesetze werden nicht durch Materie geschaffen, sondern Materie folgt ihnen. Was, wenn das Universum einem Gesetz folgt, das ihm vorausgeht? Das ist irgendwie die Grundannahme des reduktionistischen naturwissenschaftlichen Weltbildes. Jedoch erklärt dieses Weltbild nicht, wo die Gesetzte herkamen. Waren die vor dem Urknall schon da? Oder entstanden sie gemeinsam während des Urknalls? Ganz sicher entstanden sie nicht nach dem Urknall…

Mir scheint es wesentlich plausibler anzunehmen, dass es Bewusstsein gibt, das selbst agieren kann – unterschiedliche Formen des Bewusstseins, auf unterschiedlichem Bewusstseinsebenen.

Der freie Wille liegt nicht in der Fragestellung, ob die Wahl zwischen einem Apfel und einer Birne im Gehirn schon getroffen wurde, bevor sie im Bewusstsein erscheint. Die Freiheit liegt im Denken. Das Abenteuer des Denkens ist offen und weitet sich aus. Mögen wir uns nicht von Rückschritten blenden lassen.

Auf der Erkenntnisleiter folgt dem Denken Vijnana und Satchitananda. Ein höheres Bewusstsein, das über die rein rationale oder emotionale Denkweise hinausgeht. Vijnana ist ein Denken, das eine Weltsicht beinhaltet. Eine wirkliche Sicht der Welt, in ihrer Komplexität und ihren Implikationen. Ein Verständnis von Welt, das einen hohen Grad an Erkenntnis, Reflexion und Weisheit beinhaltet. Satchitananda sind die höheren Ebenen des spirituellen Bewusstseins. Es ist möglich diese zu erfahren, es lässt sich aber schlecht darüber streiten. Ich habe Jahrzehnte damit verbracht, mich selbst und andere davon zu überzeugen, dass es das nicht gibt – erfolglos.

hiraṇmáyena pā́treṇa satyásyā́pihitaṃ múkham |
tát-tváṁ pūṣann-ápā́vṛṇu satyádharmāya dṛśtáye |15|

15. The face of Truth is covered with a brilliant golden lid; that do thou remove, O Fosterer, for the law of the Truth, for sight. (Isha Upanishad)

Im Sanskrit gibt es ein schönes Wort: Dvaitadvaita – dualism-non-dualism, also die Dualität von Dualität und Nicht-Dualität.

 

 

1Eine etwas gewagte Parallele ist im Christentum zu sehen, die Relation von Vater, Sohn und heiliger Geist versinnbildlicht das gleiche Prinzip. Gott als Schöpfer ist Brahman gleichgesetzt, der Heilige Geist ähnelt Puruscha/Shakti, und Praktriti und Atman werden zusammengezogen und durch den patriarchalen Sohn ersetzt. Das nennt sich dann Dreifaltigkeit.

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