Schönheit und Entzücken

Ich bin im geteilten Deutschland der 80er Jahre sozialisiert. Es war die Zeit einer maximalen atomaren Bedrohung, der nukleare Winter war täglich denkbar. Es war die Zeit des Kalten Krieges, ein ideologisches Blockdenken. Kapitalismus oder Kommunismus waren die beiden Optionen. Der Kapitalismus ging mit einer protestantischen Arbeitsethik einher, der Kommunismus mit einem existenzialistischen Materialismus. Der Rest galt als esoterisch.

Es war nicht einfach, sich als Teenager da zurechtzufinden. Ich lebte im Westen, der kapitalistischen Seite, und wenn ich Interesse für den Kommunismus zeigte, hörte ich sofort: Dann geh doch rüber. Erschwerend kam die deutsche Schuld hinzu. Der Holocaust durfte nicht vergessen werden, die Schuld der Deutschen musste im Bewusstsein gehalten werden. Wir alle trugen die Schuld, wenn nicht persönlich, so doch als Kulturgemeinschaft. Wie konnte die ‚deutsche‘ Kultur das dritte Reich hervorbringen? Die intellektuellen Debatten im Nachkriegsdeutschland drehten sich im Kern um diese Frage. Können wir etwas identifizieren, dass zu dieser Katastrophe führte? Wie können wir danach suchen und wenn wir es gefunden haben, was können wir daraus lernen? In der Philosophie war die Frankfurter Schule am prominentesten. Bis heute ist Habermas das intellektuelle Gewissen Deutschlands.

Negative Dialektik

Im Kern ist die Argumentation folgende: Die deutsche Aufklärung (Kant) beflügelte das rationale Denken. Diese Rationalität, bei Kant nocht gefesselt durch den kategorischen Imperativ, entwickelte die Eigendynamik der Moderne, ein blinder Fortschrittsglaube wurde der entfesselt, der eigentlich ungebrochen bis heute wirkt. Im Nationalsozialismus wurde dieser Fortschrittsglaube mit einer Rassentheorie, einer Ideologie von Herrenmenschen pervertiert. Ihr Instrumente der Macht, des Krieges, der Konzentrationslager wurden jedoch im Sinne einer kalten Rationalität ‚perfektioniert‘. Das grausame Beispiel sind die Gaskammern von Auschwitz, die technisch betrachtet effektiv waren, und doch nichts anderes waren als brutalste Vernichtungslager eines systematischen Massenmordes all derjenigen, die nicht in das Bild der ‚Herrenmenschen‘ passten.

Die Negative Dialektik unterzog das Denken der Moderne einer radikalen Kritik. Kants Kategorientafel war nicht mehr das Fundament, auf dem sich eine aufgeklärte Gesellschaft errichten ließ, sondern wurde zum Sinnbild rationalistischen Totalitarismus. Die Konsequenz war eine Philosophie, die nur noch die Kritik kannte. Alles wird auf seine totalitären Strukturen hin befragt und der Diskussion anheimgestellt. Was bei Adorno die unendliche kritische Ausdifferenzierung des Begriffs ist, wird bei Habermas dem Diskurs ausgesetzt. Es gilt nur das, was im Konsens akzeptiert wird. Gibt es keinen Konsens in einer Gesellschaft, muss weiter diskutiert werden…

Schönheit und Entzücken

Welche Art von Ästhetik sollte sich daraus ableiten lassen für ‚meine‘ Generation? Begriffe wie Schönheit und Erhabenheit waren natürlich Tabu. Sie wurden als totalitär gebrandmarkt, da sie auf einer subjektiven und autoritären Empfindung beruhen zu scheinen, die sich einer rationalen Rechtfertigung entzieht und im Diskurs nicht konsensfähig ist. ‚Politisch korrekt‘ erschien eine Ästhetik, die kritisch ist, d.h. eine Avantgarde, die alles Vorangegangene hinterfragt und durch eine neue ‚kritische‘ Position ersetzt. Das Schöne in der Kunst wurde suspekt, die kritische Haltung ihr Surrogat.

Und dennoch, in ihren Zuspitzungen grenzten diese ästhetischen Positionen an das Sublime: Mark Rothko, John Cage, Yves Klein, Gerhard Richter, Pina Bausch, Bill Viola, Lucio Fontana… es ließe sich eine lange Liste von Künstlern aufstellen, die hier natürlich durch meinen persönlichen Geschmack geprägt ist. Das Sublime ist hier nicht eine Schau des Göttlichen, sondern ästhetische Grenzerfahrung.

Schöpfungshymne

Ich habe sehr lange gebraucht, mich einem kritisch reflektierten Begriff des Sublime zu öffnen. Meine ganze intellektuelle Schulung sträubte sich in mir dagegen. Und nur jene Kunst, die an eine ästhetische Grenzerfahrung heranführt, die ihrem Gegenstand nach nicht repräsentativ ist, erlaubte mir das, was ich dort erfahre, als sublim zu erfahren und zu benennen: Eine weiße Leinwand z.B. mit einem Skalpell durchschnitten, deren Öffnung es erlaubt dahinter zu blicken. Lucio Fontana’s (1899-1968) ‚Cut paintings‘ – sie sind sublim.

Mich erinnert das nun an die Schöpfungshymne (Rig Veda X.129). Sie beginnt mit:

nāś ad āsīn nó sád āsīt tadāń īṁ, nāś īd rájo nó víomā paró yát |
kím āv́ arīvaḥ kúha kásya śárman, ámbhaḥ kím āsīd gáhanaṁ gabhīrám |1|

1. Then existence was not nor non-existence, the mid-world was not nor the Ether nor what is beyond. What covered all? where was it? in whose refuge? what was that ocean dense and deep? (Übersetzung Aurobindo)

In „The Soul of Poetic Delight and Beauty“ schreibt Aurobindo:

„The earliest surviving poetry of ancient India was philosophical and religious, the Veda, the Upanishads, and our modern notions tend to divorce these things from the instinct of delight and beauty, to separate the religious and the philosophic from the aesthetic sense; but the miracle of these antique writings is their perfect union of beauty and power and truth, the word of truth coming out spontaneously as a word of beauty, the revealed utterance of that universal spirit who is described in the Upanishads as the eater of the honey of sweetness, madhvadam puruṣam; and this high achievement was not surprising in these ancient deep-thinking men who discovered the profound truth that all existence derives from and lives by the bliss of the eternal spirit, in the power of a universal delight, Ananda“(CWSA 26, p.255)

Wie, so frage ich mich, kann ich mein rationales Denken dazu bringen sich dieser Sichtweise zu öffnen? Kann ich dem spirituellen Pfad der Upanishaden folgen, ohne in totalitärem Denken zu verfangen?

Die Hymne endet mit:

iyáṁ vísr̥ ṣṭir yáta ābabhū́va yádi vā dadhé yádi vā ná |
yó asyād́ hyakṣaḥ paramé víoman só aṅgá veda yádi vā ná véda |7|

7. Whence this creation came into being, whether He established it or did not establish it, He who regards it from above (or presides over it) in the highest ether, He knows, — or perhaps He knows it not. (Übersetzung Aurobindo)

Das gibt mir Trost.

OM śāntiḥ śāntiḥ śāntiḥ

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Dank an Nishtha für das Dokument mit der Transliteration der Hymne

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