Während ich der Weisheit der Upanischaden und der Kraft der Rigveda folge, wird mir vieles immer klarer. Die spirituelle Kraft der Alten Schriften in Indien liegt in ihrem ungefilterten Zugang zur Erfahrung und der Intuition.
Die Denksysteme, die ich in der westlichen Tradition kennengelernt habe, versuchen im Grunde immer einen Ausgangspunkt zu finden:
- Philosophie sucht immer nach dem Anfang. Jedoch tut sie das in der Regel durch den Verstand. Das führt zu der Frage nach einer Axiomatik und Ontologie, also der Frage nach den Grundannahmen und den nicht reduzierbaren Seinsformen.
- Andere, eher religiöse und mystische Versuche, suchen nach einem Anker im Transzendentalen, Metaphysischen oder Übernatürlichen. Letztlich also in einer Autorität, die erfahrbar ist.
- Die Wissenschaft mit ihrem materialistischen Zugang zur Welt sucht nach Mustern und versucht diese zu verallgemeinern, um die daraus abgeleiteten Theorien zu verifizieren bzw. zu falsifizieren.
Was ich hier in Indien kennenlerne, ist die Wesensschau in der Mediation. Die Spiritualität nimmt ihren Ausgang von der Sicht nach innen. Diese Sicht nach innen ist rein und ungetrübt. Sie ist wie geklärtes Butterfett – Ghee.
Meditation zum Selbst
In der Meditation ist der Körper in einer Ruheposition und der Geist lässt die Reize der Außenwelt verklingen. Als Hilfestellung zu Beginn einer Mediation wird oft die Konzentration auf den Atem genommen. Das Zählen der eigenen Atemzüge lenkt das Bewusstsein auf den eigenen Körper, auf die Lebenskraft des Atems, auf das Verhältnis der Außenwelt zur Innenwelt. Wenn der Geist und Körper so zur Ruhe gekommen ist, fängt die eigentliche Meditation erst an. Die Sinne, die nun weitestgehend aus dem Reiz-Reaktionsschema befreit sind, liegen offen. Und genau hier setzten die Upanischaden an.
Im nächsten Schritt geht es nicht um eine Erfahrung des Transzendentalen, des Mystischen, einer irgendwie anders gearteten Realität, wie so viele Meditierende meinen. In den Upanischaden geht es darum, die Sinne in eine reine Form zu bringen. Sehen wird Sehen, Hören wird Hören, Denken wird Denken etc… Nicht mehr und nicht weniger. Wem es gelingt, auf dieser Bewusstseinsebene zu verweilen, nimmt die Grundstruktur des Bewusstseins wahr. Es wird klar, dass die Sinneseindrücke angeregt durch die äußeren Sinnesorgane innerhalb des Bewusstseins erscheinen, aber eben transformiert. In der Philosophie springen viele Denker nun viel zu schnell zu dem Schluss, dass es sich hier um mentale Repräsentativen handelt. Bis wir bei mentalen Bildern angekommen sind, passiert aber noch viel.
Die Kena Upanischade fragt: Wer sieht beim Sehen, wer hört beim Hören, wer denkt beim Denken etc…. Dies ist die Frage aller Fragen. Die Antwort ist klar und rein – Simplicity is complexity resolved – das absolute Selbst. Was heißt das?
Wenn sich mein Bewusstsein in der Meditation auf einen der Sinne konzentriert, so wird er – losgelöst von seinem Objekt der Wahrnehmung und ebenso losgelöst vom Subjekt der Wahrnehmung, zum reinen Bewusstseinsgehalt, einer Form, die einer Vibration entspringt. Vibration ist der Begriff der Upanischaden, für den wissenschaftlichen Geist könnten wir von Bewusstseinsgehalten die neuronale Ströme begleiten, sprechen. Diese Vibration, die durch die Sinnesorgane ausgelöst ist, konstituiert Bewusstsein. Selbst reduktionistische Materialisten würden hier noch zustimmen. Es ist das, was Hegel sinnliche Gewissheit nennt.
Wer ist es aber, der diese sinnliche Gewissheit hat? Es ist nicht das Subjekt, das die mentalen Bilder, die Repräsentationen synthetisiert, sondern es ist eine Vermischung der Vibrationen. Bewusstsein existiert nicht in Isolation. Bewusstsein ist eine Vermischung von verschiedenen Bewusstseinsinhalten. Die Vibration der Sinne vermischen sich mit unserem Atem und dem Herzschlag, der Natur. Kurz, Bewusstsein ist an die Lebenskraft gebunden (Prakriti), an eine Seele (Purusha) und Identität (Atman).
Atman und Brahman
Innerhalb der Meditation ist die Vermischung der Sinne gut zu beobachten. Das klare Bewusstsein wird sich dieses Gleichklangs bewusst und erfreut sich daran. Es ist hier, wo Ekstase und Seligkeit erfahrbar werden. Und hier, jedenfalls für mich, erwacht das Selbst in einem tieferen Sinn. Denn hier ist das Bewusstsein losgelöst vom Reiz-Reaktionsschema. Das synthetisierte Bewusstsein (Atman), entfaltet eine eigene Handlungskraft, es wird zu einem Agierenden, d.h. frei. Und in eben jenem Bewusstsein des freien Selbst (was ein wesentlich stärkerer Begriff ist als das recht technische Selbstbewusstsein mit seiner selbst-referenziellen Struktur), erkennt das Selbst seine Einheit mit dem absoluten Selbst. Das freie Bewusstsein erkennt sich als Teil von Bewusstsein überhaupt. Atman ist Brahman und Brahman ist Atman.
Bilder der Rigveda
Von hier aus werden mir auch Bilder Rigveda klar. Die heiligen Kühe, die als Strahlen der Sonne und in anderen merkwürdigen Konstellationen vorkommen, die Pferde, die angespannt sind und aus den Städten kommen oder die Götter fahren, das Feuer, das in unterschiedlicher Form, mal rauchend, mal klar, allgegenwärtig ist.
Ich versetzte mich manchmal nach einer Meditation in eine vorhistorische Zeit, eine Zeit, mit wenigen Werkzeugen, ohne Schrift, unter dem Sternenhimmel, wo die Pferde auf der Wiese grasen und die Milch über dem Feuer gekocht wird und die geschlagen Butter geklärt wird. Das Mysterium des Lebens und des Bewusstseins, die Erfahrung Teil des Kosmos zu sein, um das Lagerfeuer sitzend, oder die Öllampen mit geklärter Butter für die Götter anzuzünden, ist eine tiefe spirituelle Erfahrung, die teilweise noch in den Tempeln und bei den Festen in Indien zu spüren ist.
Die geklärte Butter der majestätischen frei laufenden Kühe, die kraftspendend und lichtgebend ist, der Atem der schnaufenden Pferde im Morgengrauen, das Feuer, das wärmt und sich in der Sonne und dem Mond spiegelt. Dies sind ganz konkrete Erfahrungen, die zentraler Gegenstand spiritueller Mediation sind. Die Rishis gehen ganz konkret von dem, was vor ihnen ist aus, und sie reflektieren nach innen hinein und beschreiben das Geheimnis unserer Existenz hier und jetzt. Es ist keine Spiritualität, die auf Autorität aufbaut oder von Kategorien a priori ausgeht. Diese Spiritualität ist entwickelt aus der allgemeinsten Erfahrungswelt, sie erklärt wer und was wir sind. Sie gibt den Dingen und Kräften lediglich Namen und beschreibt sie.
Die Götter sind nichts anderes als jene Kräfte, die wir sehen: das Wachsen der Bäume in der Natur, der Kampf und die Liebe bei den Lebewesen, die Kräfte unseres Unterbewusstseins, die Ideale unseres Geistes. Sie sind Teil jeder Kultur, sie sind überall da, sie sind real. Im Hinduismus sind sie Kräfte benannt und als Götter verehrt. Was soll daran falsch sein?
Wir leben in dieser Welt, hier sind wir, und hier ist unserer Spiritualität. Sie liegt nicht im Jenseits, und sie ist auch nicht nicht.