Poesie und die Unmöglichkeit über Autobahnen zu reden

Aber Hitler hat doch Autobahn gebaut! Ich höre das in letzter Zeit immer öfter. Es ist schwierig hier weiterzureden, weil ein bestimmtes Argument, das ich sehr wichtig finde, recht komplex ist und von Menschen die den Faschismus und den Holocaust relativieren wollen abgelehnt wird. Das Argument, das von Adorno angeregt wurde, ist: Nach Ausschwitzt können keine Gedichte mehr geschrieben werden. Es geht grob skizziert so:

  1. Das Ausmaß des Grauen des Holocaust ist so groß, dass wir als Individuum und als Gesellschaft uns fragen müssen, was dieses Ausmaß ermöglicht hat.
  2. Gräueltaten gab es in der Geschichte leider immer wieder und fast überall. Gibt es etwas, das den Holocaust in seinem Grauen singulär erscheinen lässt?
  3. Eine These ist, dass die technische Präzision der Vernichtungslager aus dem Geist der Rationalität geboren wurde. Es ist kein Massenmord aus Wut, Rache, Machtgier, Hass etc… sondern eine ‚technische Operation‘, in der Verantwortungen geteilt wurden, und die meisten glauben wollten, dass sie einfach nur ihren Job machen.
  4. Die Frage, die sich hieraus ergibt, ist, ob die Rationalität selbst moralisch blind und grausam ist.
  5. Wenn Rationalität sich gegen die Menschheit wenden kann, dann muss sie grundsätzlich und gründlich hinterfragt werden, und bis diese Hinterfragung nicht abgeschlossen ist, können wir nicht so weitermachen, wie es das Projekt der Moderne suggeriert.
  6. Wir müssen alles hinterfragen, auch die Poesie (und die Autobahnen).

Ein Projekt, das die Frankfurter Schule vorschlug, in den 60er Jahren war die kritische Theorie und in ihr die negative Dialektik. Hegel hatte als Reaktion auf die strengen Kategorientafeln Kants eine dialektische Philosophie vorgeschlagen, die den Geist nicht an ein festes Gerüst von Prinzipien und Kategorien des reinen Denkens gebunden sah, sondern als eine Kraft, die aus sich heraus sich selbst immer weiter entwickelt. Es sei der Mensch, der diese Bewegung des Geistes manifestieren und ausdrücken kann. Der Übergang von Kant zu Hegel ist ein wichtiger Bruch in der Philosophiegeschichte des Westens. Diesen Schritt mit neuen Methoden zu hinterfragen, ist das Projekt der negativen Dialektik. Statt Wissen zu synthetisieren und in seiner Komplexität anzureichern, versucht die negative Dialektik, die Komplexität zu bewahren, aber die Synthetisierung umzukehren in ein ständiges Hinterfragen: eine kritische Theorie. Da ist die kritische Theorie auch gar nicht so weit entfernt vom Dekonstruktivismus, wenngleich die Methoden sehr unterschiedlich sind: Die kritische Theorie geht systematisch vor, der Dekonstruktivismus oftmals assoziativ, spürt dem Unbewussten nach, sucht nach strukturellen Parallelen – ähnlich dem Poststrukturalismus.

Es wird deutlich, dass dieses Projekt wichtig ist, wenn wir uns andere ‚Errungenschaften‘ anschauen, die z. B. den Abwurf der Hiroshima Bombe, oder die Entwicklung von KI. Das Argument lässt sich auf die Kernfrage der Wissenschaftsphilosophie anwenden, nämlich der Frage nach der ethischen Verantwortung von Wissenschaft. Karl Popper betrieb dieses Projekt weiter.

Jenseits der Rationalität

Das Denken der Moderne, von Kant bis zur Frankfurter Schule, ist geprägt durch eine Skepsis gegenüber spekulativem, intuitiven, spirituellem, mysthischen Erkenntnisformen. Die Rationalität ist das Schwert, mit dem alles, das sich nicht ihrer Logik unterwirft, enthauptet wird. Doch wie bei einer Hydra erzeugt dies nur neue Gesichter, andere ‚Irrationalitäten‘. Es gibt z. B. einen Unterschied zwischen Leichtgläubigkeit, und spirituellem Denken. Es gibt einen Unterschied zwischen Intuition und Bauchgefühl.

Die westliche Denkweise hat sich zu sehr auf den rationalen Geist berufen. Die Dimension des Lebens, des Bewusstseins und die Spiritualität werden ihr als ‚noch aufzuklärende‘ Projekte untergeordnet. Für mich wird inzwischen deutlich, dass das Projekt der negativen Dialektik wesentlich weiter führen muss. Es muss uns die Türen zu unseren anderen Daseinsweisen eröffnen. Ob die negative Dialektik hier das geeignete Mittel ist, finde ich jedoch fraglich, denn sie zieht sich bei Adorno in eine ästhetische Theorie zurück. Sie kann das Denken ein Stück weit auf der Reise begleiten, der Weg wird sich jedoch schnell verzweigen.

Es ist aber ist einer der Pfade, der mich zu den Weisheiten alter Schriften geführt hat. Dieses Denken der ‚Vormoderne‘ ist reicher und komplexer. Es zieht andere Grenzen. Im Zentrum steht nicht die Logik, sondern Bewusstsein, Gott, Seele, Natur, Gemeinschaft etc… Es sind Begriffe, die auf anderen Ebenen unseres Daseins verankert sind. Oftmals werden sie ineinander verschränkt. In den Veden sind es 7: Materie, Atem, Geist, ideales Wissen, Seligkeit, Bewusstsein und reine Existenz. Wann lernen wir wieder, dass unser Menschsein nicht auf Algorithmen reduziert werden kann, müssen dazu wirklich erst in eine Schlacht mit KI eintreten?

Manchmal frage ich mich, ob es eine Parallele gibt zwischen der Vorstellung des Big Bang und dem in Erscheinung treten des menschlichen Geistes. Denn ebenso wie der Big Bang nicht aus Materie heraus, sonders aus Vibration, also Bewusstsein heraus in Erscheinung trat, so erschien der menschliche Geist als eingebettet in kosmisches Denken, Götterwelten, Ehrung des Lebens. Die Höhlenmalereien von Chauvet zeugen davon. Und ebenso wie der materielle Kosmos sich dem Kältetod zubewegt, differenziert sich der menschliche Geist aus in Einzeldisziplinen, die das Menschsein vergessen.

Eine mögliche Antwort auf diese fundamentale Krise des Geistes ist die integrale Philosophie Sri Aurobindo’s: die Synthese der Yogas.

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