Nāṭyaśāstra – der 5. Veda oder über die Wahrheit in der Kunst

Mimesis – Rasa – Repräsentation – Ausdruck – Denken

Klassische Antike

Ich versuche seit Jahrzehnten, die Stolperfallen der westlichen Kunsttheorie wahrzunehmen und zu vermeiden. Ich habe mich dann viele Jahre in den Gefilden der Medientheorie rumgetrieben und dort über alle möglichen Formen der Repräsentation nachgedacht, über den Charakter von Information und Möglichkeiten der Interaktion. Es hat lange gedauert, bis ich mich dem Erhabenen genähert habe, bis ich schließlich in Indien angekommen bin.

In der klassischen Antike gibt es zwei wichtige Begriffe, die sich auf Kunst beziehen lassen: Mimesis und Aisthesis. Mimesis ist das Prinzip der Nachahmung. Platon sagte, dass wenn wir etwas nachahmen, das ohnehin schon eine Lüge ist, denn die Schatten an der Wand der Höhle sind bloß Schein, so ist also die Nachahmung bloß eine Lüge der Lüge, und damit gefährlich. Aristoteles war da ‚moderner‘, für ihn ist Mimesis das Durchleben von Dramen, in dem Mitfiebern und dem Erleben der Auflösung von Konflikten ist eine Katharsis möglich, wir können so lernen, sogar heilen und wachsen.

Der zweite Begriff, die Aisthesis, beschäftigt sich etwas tiefer mit der Wahrnehmung selbst. Wie nehmen unsere Sinne wahr? Was gefällt unseren Sinnen? Welche Gefühle werden durch sie hervorgerufen? Wann ist etwas erhaben? Es geht hier um die Struktur unsere Wahrnehmung, es ist also theoretischer.

Beide Konzepte, Mimesis und Aisthesis, führen meist zu Theorien der Repräsentation: was ist wie dargestellt und wie nehmen wir das auf? Es basiert zumeist auf einer Subjekt-Objektrelation, in der das Subjekt versucht Welt zu verstehen, als ein Gegenüber, etwas, das außerhalb meines Selbst ist und über Wahrnehmung und Mimesis verstanden werden kann. Hilfreich in diesem Prozess ist die Sprache als Medium, aber auch andere Formen von künstlerischen Medien.

Mein Grundproblem war also das der Repräsentation, d. h. die Repräsentation von Welt für das Subjekt, ausgedrückt durch ein (anderes) Subjekt. Seit der Renaissance rückte dann das Subjekt mehr in der Forderung, der Ausdruck des Selbst, also Kunst als Selbstausdruck, bestimmte den modernen Kunstbegriff. Kunst zeugte von der Darstellung eines künstlerischen ‚Genies‘, das seine individuelle Sichtweise prononciert. Es ist eine etwas komplexere Form von Repräsentation, aber im Wesentlichen ist die Frage des Kunstbetrachters, die gleiche geblieben: Was stellt das Werk dar?

Der 5. Veda

14-15. He then thought: “I shall make a fifth Veda on the Nāṭya with the Semi-historical Tales (itihāsa), which will conduce to duty (dharma), wealth (artha) as well as fame, will contain good counsel and collection [of traditional maxims], will give guidance to people of the future as well, in all their actions, will be enriched by the teaching of all authoritative works (śāstra) and will give a review of all arts and crafts.” https://www.wisdomlib.org/hinduism/book/the-natyashastra/d/doc202329.html#note-e-79660

In der Zeitspanne einiger Jahrhunderte vor und nach der gemeinsamen Zeitrechnung entstanden zentrale Texte der Indischen Kultur, der āgama (das Buch dass die Regel der Tempel in Tamil Nadu beschreibt), Vāstu śāstra (Prinzipien der Architektur), das Kāma-sūtra (das die Kunst eines guten Lebens beschreibt), Chitrasūtra (Theorie der Gemälde und Skulpturn) und der Nāṭya śāstra (Bühnenkunst), Viswakarma vastusästram (Stadtplanung), das die Grundlage der Kunst als eine Theorie von Rasa beschreibt und viele andere…. Eine genaue Datierung aller Texte ist bis heute nicht gelungen.

Sich in diesem Geflecht zurechtzufinden ist noch komplizierter als sich in der klassischen Antike zu orientieren. Ich meine damit bloß die groben Züge, nicht die Fachdiskussionen. All diese Texte beziehen sich auf die Tradition der Vedas, und damit auf die Lehre des Hinduismus, dass die Texte der Vedas göttlich sind.

Der Kerngedanke ist, dass Brahma, der Schöpfer des Universums dieses erschaffen hat, ums sich selbst zu erfahren. Das Selbst in Form von Atman und als bewusstes Selbst in Form von Purusha ist Teil von Brahma, alles ist Brahma, Brahma ist alles. Die Bewusstwerdung von Brahma im Menschen durch Purusha ermöglicht eine Verbindung unseres Selbst mit Brahma. Diese Verbindung ist unter anderem in der Meditation möglich. Hier kann Bewusstsein sich selbst erfahren und die Wahrheit Brahma’s empfangen. Dies gelang den Rishis, die die empfangene Wahrheit in den Vedas weitergegeben haben. Dass dieses Wissen göttlich ist, wird später vom Buddhismus zurückgewiesen.

Zentral ist in diesem Wissenssystem ist, dass alles Bewusstsein Vibration ist, was auch der modernen Wissenschaft nicht widerspricht. Die Vibration ist Resonanz, Gleichklänge, Vermischungen, in seiner reinsten Form ist diese Vibration die Silbe OM. Auf diese Erfahrung bezieht sich alles.

Natürlich gibt es auch hier die Diskussionen über Dualismus (Dvaita) und Monismus (Advaita). Advaita ist aber die klassische Lehre. Für mich macht es am meisten Sinn, Advaita dem Konzept der Immanenz gleichzusetzen.

Wenn ich also versuche in die Welt der Kunsttheorie aus der Zeit der Vedas einzutauchen, dann sind für mich die Begriffe Advaita (Monismus/Immanenz) und Vibration (Bewusstsein) zentral. Rasa (Geschmack, Essenz, Stimmung) ist eine Vibration, die diesem Denkgebäude entspringt.

Wie alles in den alten Schriften der Welt der Vedas, ist das Ganze hyperkomplex. Die Ästhetik ist generell stark kodifiziert, alles hat eine Bedeutung, jede Bewegung (32 Aṅgahāras), jede Handstellung (24 Mudras), jede Körperhaltung (108 Karaṇas), Farbe, Proportion, Relation etc…. Das alles hat genau definierte Bedeutungen. Es ist die Sprache der Götter, die Gesetze sind göttlich, es gibt da wenig Spielraum für Interpretation. Das, was im Kunstwerk sichtbar ist, ist eine Umsetzung dieser Prinzipien. Nur wenn diese in höchstem Streben nach Perfektion ausgeführt werden, mit Hingabe und Demut, nur dann haben sie Rasa – Essenz, Geschmack, Stimmung. Denn die Götter wollten ein Objekt der Ablenkung, das für alle hör- und sichtbar wäre, und sie baten Brahmā darum, ein Veda zu schaffen, das allen Farbgruppen gehören würde. Brahmā schuf Nāṭyaveda, indem er Elemente aus den vier existierenden Vedas kombinierte. Nach seiner Schöpfung forderte Brahmā Indra auf, das Nāṭyaveda von den Göttern aufführen zu lassen, aber Indra sagte, dass nur Weise, die das Geheimnis der Vedas kannten und ihre Gelübde erfüllt hatten, fähig seien, es zu pflegen und zu praktizieren.

Es geht in der ‚traditionellen’ indischen Kunst also nicht darum, die Welt darzustellen. Es geht auch nicht darum, dass ein Künstler sich ausdrückt. Es geht – in der reinen Lehre – allein um die Verwirklichung des göttlichen Prinzips. Die Beschreibungen dieses Prinzips sind für westliche Sinne absurd präzise. Glaubt man, dass dies göttliche Prinzipien sind, so endet Diskussion hier darüber, warum es genau diese Komplexität hat. Andernfalls stellt sich die Frage, warum vor 2000 bis 4000 Jahren alles so akribisch festgehalten wurde und warum sich diese Tradition nahezu ungebrochen bis heute gehalten hat.

Die Quelle der Kunst

Auf der Oberfläche betrachtete sind die unzähligen Ausdrucksweisen der Kunst heute, d.h. in ihren Medien, Techniken, Kulturkreisen, Ausdrucksformen, Diskursen verwirrend bunt. Kunst ist Kunst, weil sie uns dazu bewegt, die Welt anders wahrzunehmen. Das ist vielleicht der kleinste gemeinsame Nenner. Dann hört es aber schon auf, denn die Weltbilder, die mit verschiedenen Kunstformen assoziiert werden, sind maximal unterschiedlich.

Die Frage ist also, was ist es, das uns bewegt? In der Mimesis ist es eine Simulation, die entweder reine Lüge ist, oder zu einem produktiven Simulationsraum werden kann. Als Teil eines philosophischen Diskurses kann Kunst uns dazu bringen, neues zu entdecken, und etwas über unsere eigene Natur zu lernen. Als Rasa beansprucht Kunst göttliche Wahrheiten auszudrücken und uns so dabei zu helfen, uns weiterzuentwickeln. Sie ist kein Zeugnis eines Jenseits und keine Heilsgeschichte, sondern Manifestation dessen, was uns zum Menschen macht, das heißt, sie ist Manifestation von Bewusstsein.

In einem profanen, aber reichhaltigen Sinn bedeutet das, dass der menschliche Geist sein Bewusstsein erweitern kann, es kultivieren, trainieren, schärfen kann. Diese Entwicklung des Bewusstseins, im Individuum, in einer Kultur, in einer Epoche manifestiert sich. Es ist ja schon ein bisschen absurd, dass all die Materialisten und Kapitalisten in die Oper rennen, um dort den Feingeist zu zelebrieren, den sie im geschäftlichen Alltag so sehr verneinen.

In einem spirituellen Sinn wäre zu denken, dass es unwahrscheinlich ist, dass mein Bewusstseinsstand der Höhepunkt der kosmischen Entwicklung darstellt. Es wäre also denkbar, dass Bewusstsein größer ist, als das, was wir allgemein mit unserem Gehirn auf einer neuronalen Ebene assoziieren.

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