Was ist ein heiliger Raum und was ist keiner? Inzwischen finde es viel leichter zu sagen, was ein heiliger Raum ist, als zu sagen, was keiner ist.
Ich hatte mich in Europa immer zu Kirchen hingezogen gefühlt. Nicht zu ihrer Ikonografie, denn die Bildsprache der Bibel, ein toter Mann am Kreuz, das fand ich immer irritierend. Die ‚heiligen Räume‘ im christlichen Raum sind vornehmlich katholische Kirchen, denn die evangelischen Kirchen sind ja definitionsgemäß keine heiligen Räume, sie sind eher Versammlungsräume, wo sich eine Gemeinschaft trifft.
Die katholischen Kirchen also, oder die von Katholiken gebauten, haben eine besondere Aura der Kontemplation und Stille. Das spärliche Licht, die Gewölbe, die Seitenschiffe, die Perspektiven, die sich in diesen Räumen auftun, die Abgeschiedenheit von der zivilen Gesellschaft draußen, also das Drinnen und Draußen, das Innerliche und Äußerliche… all diese Elemente haben mich immer angezogen. Immer wieder bin ich in Kirchen hineingegangen, habe mich ein paar Minuten hingesetzt, bin zur Ruhe gekommen. Aber da war immer dieses Kreuz, die Schuld und Vergebung, Tod und Verzweiflung, die mich nie haben lange dort verweilen lassen. Kirchen waren für mich immer Zufluchtsräume einer inneren Einkehr, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Am liebsten war in Kirchen, wenn Orgel gespielt wurde, dann war da nur noch der Raum und die Vibration, das Licht, die Perspektive, das Innen, also kein materieller Raum und auch keine Ideologie oder Religion.
Tempel im Mittelmeerraum
Ganz anders war meine Erfahrung mit Tempeln in Italien, Frankreich, Griechenland, Ägypten. In Griechenland und Ägypten habe ich nur Ruinen gesehen, nationale Denkmäler, Touristenattraktionen. Aber dennoch war die Art und Weise, wie sie in der Landschaft stehen, beeindruckend. Sie sind offen für die Elemente, durch Verwüstung und Vernachlässigung weitestgehend befreit von ikonografischer Ideologie, diese Stätten sind Zufluchtsorte einer Verbindung mit der Natur, der Geschichte, dem Kosmos, sie zeugen von einer vergangenen Zeit und setzen die Fantasie frei.
Ich denke an Winkelmann und die Renaissance, die Dramen der griechischen Antike, die Pharaonengräber und Hieroglyphen. In diesen Ruinen weht ein Geist, wie man im Deutschen so schön sagt. Dieser Geist des Pantheons der Götter des Olymp, der sich mit denen der Ägypter und Römer überschneidet, beschreibt eine andere Welt. Eine Welt, die durch Polytheismus geprägt ist, durch mythologische Geschichten, Widersprüche und allzu menschliche Konflikte. Es ist ein Spiegel des sozialen Menschen, zu mindestens habe ich das immer so verstanden, und bin da wohl auch nicht allein mit. Es ergab Sinn für mich, dass sich der menschliche Geist in großen Erzählungen spiegelt, um sich selbst zu erkunden und die Erfahrungen zu teilen. Diese Geschichten wurden dann zu Geschichten von Macht und Politik.
Tempel in Indien
Wie anders sind die Tempel in Indien. Sie sind lebendig, die Tradition ist im Jetzt verankert. Die Götter werden verehrt seit der Zeit der Veden oder noch länger. Das Pantheon der Götter ist nicht ein Spiegel der Menschen, er ist der Ursprung. Die Götter stehen für die Kräfte des Universums: physikalische Kräfte, psychologische und emotionale Kräfte, Lebenskräfte und Kräfte, die wir noch nicht benennen können, denn es wäre albern zu denken wir wüssten schon alles. Wenn ich also in einen indischen Tempel gehe, so ist das eine Verbindung der Erfahrungen aus Europa, erweitert durch die Erfahrung einer lebendigen Tradition, die verschiedene Arten der Yoga integrierte. Die Sutras sind eine Sache, eine andere ist die Vibration. Vibration ist das Zentrum indischer Spiritualität. In dem Laut OM kommt das zum Ausdruck. Materie und Energie, Bewusstsein, Leben sind lediglich verschieden Formen von Vibration. In der indischen Philosophie in der Interpretation von Sri Aurobindo gibt es daher 7 Ebenen der Existenz: Materie, Leben, rationaler Geist, ideales Wissen, Seligkeit, Bewusstsein und reine Existenz. Es ist nicht sinnvoll, die Kultur Indiens verstehen zu wollen, ohne diese Unterscheidung wahrzunehmen.
Beim Eintreten in einen Tempel habe ich das Gefühl, dass alle diese Ebenen aktiviert werden. Diese Aktivierung des holistischen Selbst bildet sich in den alten Tempeln in Form des Vastupurusamandalas ab. Vastu ist die Kunst der Architektur, Purusa die Urseele, Mandala die heilige geometrische Form. Diese drei Elemente bilden die Matrix der meisten alten großen Tempel Indiens. Beim Eintreten in einen Tempel trete ich also ein in einen spirituellen Raum. Die Tempel sind nicht Abbild von Gesellschaft und Selbstbild des Menschen, sie sind für viele Gesellschaft an sich und Kern menschlicher Existenz. Sie beruhen auf einem holistischen Wissen, dass nicht nur unsere 7 Formen der Existenz anerkennt, sondern auch die verschiedenen Wissensformen synthetisiert. Denn schon zur Zeit der Veda gab es das Wissen der Kunst und Musik, des Ayurvedas, der Sutras, verschiedener Formen des Yoga: Karma (Aktion), Hatha (Kraft), Tantra (Energie), Bhakti (Gebet), Jnana (Wissen), Raja (Meditation).
Tempel sind für ganz persönlich Universitäten des Lebens.