Strom des Lebens

Langsam und in großen Intervallen lese ich immer wieder Sri Aurobindo. Warum nicht viel und schnell, alles aufsaugen und endlich Ordnung in meine Gedankenwelt bringen, die ausbrechen möchte aus den Folgen eines rationalen Monotheismus? Warum gebe ich meinem Intellekt nicht die Freiheit, Konzentration, Ruhe und Kraft, sich auf eines der größten Abenteuer des Lebens einzulassen?

Als Student bin ich einmal sehr naiv im Rhein schwimmen gegangen, irgendwo vor Basel, wo das Wasser klar und kalt, schnell und breit grüne Berglandschaften durchströmt. Kaum in den Fluss gesprungen, fanden wir uns in der Mitte des Stroms. Rasend schnell zog das Ufer vorbei, und wir wussten, dass wir schnell wieder raus müssen, denn wir waren einfach irgendwo in den Fluss gegangen und mussten irgendwie wieder zurückfinden zu unseren Kleidern. Wir waren aufgeregt, lebendig, neu geboren. Es fühlte sich an wie ein Eintauchen in den Strom des Lebens. Die Sinne schärften sich, die Welt als Prozess zeigte ihre Kraft in liebevoller Weise, das Selbst behauptete sich gegenüber den fünf Elementen. Der Intellekt war leise, die Erfahrung des Erhabenen groß, der Atem aktiv. Dies ist eines der Bilder meiner Erinnerung, die mir helfen, den Upanischaden zu folgen.

Jene Erfahrung, so wie eigentlich jede Erfahrung, besteht aus Bildern. Die äußeren Sinne vermitteln im Kontakt mit der Außenwelt einen inneren Sinn, eine Wahrnehmung, die zu einer Erfahrung werden kann. Dieser innere Sinn speist sich, vermittelt durch die Nervenenden der äußeren Sinne, aus der Vibration von Licht, Klang, Berührung, Geschmack und Geruch. Und jener innere Sinn kann sich wiederum durch Klang, Gesten und Darstellung ausdrücken. Dieser innere Sinn ist Bewusstsein.

In der spirituellen Philosophie ist die Welt des inneren Sinnes die Welt des Subtilen im Kontrast zu der Welt der groben Materie. Die Bilder, die sich in der subtilen Realität manifestieren, sind real (das haben Schopenhauer und Bergson auch erkannt). Und wie sich in dieser Welt Bilder von Bäumen und Schmetterlingen, Menschen und Kunst, Schmerz und Freude manifestieren, so finden wir darin auch Eigenschaften des Charakters, Persönlichkeitsstrukturen, Machtkonstellationen, größere Zusammenhänge, die wir als Bilder erkennen. Wir fragen uns, warum jemand etwas tut oder wieso ich etwas in einer Art und Weise wahrnehme, die nicht gut, richtig oder wahr ist. Wir können uns Bilder anvertrauen, die uns als Illusion erscheinen; wir können die Illusion als Realität wahrnehmen und wir können das Gefühl haben, in etwas gefangen zu sein, das unsere eigenen Möglichkeiten der Kontrolle überschreitet. Wir nehmen also Dinge wahr, denen kein äußeres Objekt entspricht, das meine äußeren Sinne hätte berühren können. Die Logik dieser Bilder können wir in Hypothesen formulieren und an der Realität ‚testen’. Bewusstsein geht der Realität voraus. Früher war diese Welt durch die Götter des Pantheons strukturiert. Heute tun wir so, als ob es die Wissenschaft sei.

Subtile und grobe Realität

Die Welt der groben Materie versuchen wir mit Hilfe der Naturwissenschaften zu verstehen, obgleich das eigentlich ein Euphemismus ist, denn der Naturwissenschaft geht es eigentlich gar nicht darum, die Natur zu erforschen, denn das, was die Natur ausmacht, ist die Verbindung zu jener subtilen Realität. Wäre es also ehrlicher, bei dem engeren Begriff der empirischen Wissenschaft zu bleiben? Jener Wissenschaft, die sich auf das wiederholbar Erfahrbare konzentriert? Auch dies scheint missverständlich zu sein, denn vieles in der subtilen Welt ist sehr wohl empirisch erfahrbar und beschreibbar. Wie sieht es aus mit den Einzelwissenschaften wie Physik, Medizin, Soziologie? Sie legen sich eine Selbstbeschränkung auf, indem sie sich auf die materielle Welt konzentrieren und von ihr allgemeine Gesetze ableiten. Diese Naturgesetze wiederum beschreiben eine tiefere Realität, eine Metaphysik. Solange die Metaphysik Bewusstsein ausklammert, ist ihr die Annahme von sehr komplexen Theorien und Elementarteilchen erlaubt, solange sie sich nicht in Widersprüche verwickelt (obgleich auch das oftmals erlaubt ist).

Was ist es, das die Wissenschaft der Neuzeit davon abhält, sich mit dem Bewusstsein zu befassen? Was hat die innere Erfahrungswelt derart diskreditiert, dass wir alles daran setzen, sie zu verleugnen? Die Antwort ist zweischneidig. Die Rationalität, die sich der Phänomenologie des Bewusstseins entgegenstellt, beschleunigt durch ihre Grundlagenforschung die angewandten Wissenschaften; und in Form von Aufklärung versucht sie, Machtmissbrauch kritisch zu hinterfragen. Andererseits hinterlässt sie eine Leere, die durch Konsum und eine wie auch immer geartete Kulturindustrie kaschiert wird und eine Art Disneyland hervorbringt (Adorno). Die Auseinandersetzung mit der Spiritualität wird marginalisiert und in den Bereich des Obskuren verdrängt. Gibt es dafür vielleicht gute Gründe? Denn der Erfolg der Aufklärung konnte im 20. Jahrhundert selbst durch die Katastrophe des Holocausts nicht gestoppt werden. Die Ausbeutung unserer Umwelt erlaubte einen feudalen Lebensstil für die Massen im Westen. Ich bin kein Gegner des Fortschritts, aber er hat seinen Preis.

Indien

Wie passen die Tatsache, dass 16% der Bevölkerung in Indien unterernährt sind und 97% sagen, dass sie spirituell sind, zusammen? Hat das eine mit dem anderen nichts zu tun? Ist die Frage ein klassischer Kategorienfehler? Ist eine nach innen aufgeklärte Gesellschaft, die ihren Wohlstand der Ausbeutung des globalen Südens verdankt, erfolgreicher als eine kolonialisierte spirituelle Gesellschaft, der eine Toleranz gegenüber Leid das Überleben sicherte? Lassen sich aus solchen polarisierenden Statements irgendwelche Schlüsse ziehen? Ich führe das hier an, um anzudeuten, dass eine Frage nach Spiritualität und Bewusstsein nicht notwendigerweise in Verbindung mit Fortschritt diskutiert werden muss oder kann, da das schnell sehr verwirrend wird.

Ich lebe hier im Süden Indiens teils in einer vormodernen Welt. Das Leid vieler ist aus moderner Sicht schwer zu ertragen, die religiöse Praxis erscheint teilweise naiv, die sozialen Strukturen sind an der Oberfläche patriarchalisch und archaisch, die Kultur traditionell ausgerichtet, das Wissen konservativ orientiert. Ich bin mir meiner privilegierten Stellung hier sehr bewusst und versuche, Romantisierungen zu vermeiden. Dennoch gibt es in dieser Welt etwas, das in der Moderne abhanden gekommen ist: die Integrität des Seins. Sein ist nicht bloß das Leiden des individuellen Selbst und sein Drang nach Selbstverwirklichung, sondern Sein ist Teil von kosmischer Realität, innerhalb dessen das eigene Selbst Teil ist. Dass diese Vorstellung am Ende des Tages reicher, freier und in stärkerem Maße selbstrealisiert sein kann, ist die Kraft des spirituellen Denkens, das in die Feinheiten der subtilen Realität eintaucht.

Verwandte Beiträge

Beginne damit, deinen Suchbegriff oben einzugeben und drücke Enter für die Suche. Drücke ESC, um abzubrechen.

Zurück nach oben