Seitdem ich vor Jahrzehnten zum ersten Mal von Schattenarbeit gehört hatte, fragte ich mich, was das genau sei. Ich dachte immer an tiefe Abgründe in der Seele, Traumata, Tabus, Geheimnisse, die man mit niemandem geteilt hat, weil es zu schamvoll ist, darüber zu reden. Ich dachte, Schatten sind das, was wir vor uns selber und vor den anderen verstecken. Und wahrscheinlich ist da schon etwas dran an dieser Vorstellung.
Nun habe ich gemerkt, dass die Schatten erst einmal woanders auftreten. Sie sind eigentlich mehr die Verhaltensmuster, in die wir fliehen, wenn wir uns mit etwas nicht auseinandersetzen wollen. Bei mir ist das z. B. die Flucht in die akademische Reflexion, anstatt sich direkt emotional auseinanderzusetzen. Wahrscheinlich öffnet sich hier das ganze Spektrum dessen, was in der westlichen Tradition Gegenstand von Therapien sein kann: Sucht, Gewalt, verzerrte Wahrnehmung, ungesunde Verhaltensmuster, Angst, Bindungsunfähigkeit etc. … Diese Schatten, die unser Verhalten unbewusst leiten, gilt es wahrzunehmen. Es ist wichtig zu sehen, welche Muster unser Denken, unsere Gefühle, unser Handeln bestimmen. Vielleicht löst sich dann ein Knoten.
Mich interessiert aber, wie sich diese Schatten in unseren subtilen Körpern manifestieren. Wir haben diese verschiedenen Ebenen unserer Existenz: Körper, Leben (Atem), Sexualität, Gefühl (Herz), Geist (Verstand), spirituelles Bewusstsein, umfassendes Bewusstsein. Durch Meditation und verschiedene Yogas können wir uns dieser Ebenen bewusster werden. Das Ablösen vom Ego erlaubt es, diese Ebenen als Formen unserer Existenz zu begreifen, die jeweils Teil eines großen Bewusstseins sind: Materie, Biologie, Psyche, Seele, Geist, Bewusstsein, Transzendenz. Diese Realitäten sind nicht bloß meine persönliche Konstitution, sie sind Realitätsebenen, an denen ich Teil habe, die sich in mir manifestieren. Das wird erst sichtbar, wenn wir uns von unserem Ego lösen. Und genau in dieser Verstrickung mit dem Ego erscheinen die Schatten. Wir haben alle eine Biographie, und diese schreibt sich in unser komplexes Sein ein. Unsere Erfahrungen hinterlassen Spuren in unserem Körper, unserem Herz, im Gedächtnis, im Denken.
Ich habe die Vorstellung, dass in uns ein Licht ist, das durch die Ebenen unseres Seins durchscheint, und unsere Erfahrungen, unsere Biographie, hinterlässt diese Spuren in uns. Und wenn sich da etwas staut oder verknotet, verhärtet oder versteckt, wenn da etwas bricht oder wächst, wenn da etwas unterdrückt wird oder verselbständigt, wenn da etwas zum Selbstläufer wird und sich unbewusste Muster bilden, dann wirft das Schatten.
Ich möchte aber noch ein wenig genauer schauen. Da gibt es also ein inneres Licht, da ist etwas, das einen Schatten wirft, es gibt dort auch einen Beobachter, einen Akteur und ein Wesen. In diesem Tempel des Körpers manifestiert sich unser individuelles Sein. Der Pfad der Spiritualität führt zu einem Punkt, an dem dieser Tempel vollständig erleuchtet wird und den ganzen Kosmos in sich hält. Es geht dabei eigentlich gar nicht so sehr darum, Dinge in Ordnung zu bringen oder zu korrigieren, zu therapieren (es sei denn, es gibt da wirklich einen Leidensdruck oder einen Konflikt, der gelöst werden muss). Es geht vielmehr darum, das, was die Schatten wirft, klar zu sehen, sodass es durchlässig (transparent) wird.