Kunst in Pondycherry: Ein Blick auf die Künstler, ihre Praxis und die visuelle Sprache

Gestern traf ich mich mit einer Galeristin in Pondycherry. Ich möchte mehr lernen über die Künstler in der Region, über Inspirationen, die künstlerische Praxis, die visuelle Sprache, die spirituelle Tiefe, die Narrative, die Studios, die Biographien, die Tempel, die sie besuchen. Gleichzeitig diskutiere ich mit einigen Aurovillianern über ein Videoformat über die Kunstlandschaft rund um Auroville. Meine Ausbildung als westlicher Kunsthistoriker ist da nicht immer hilfreich, es gibt so vieles, das ich erstmal vergessen muss – ‚unlearning‘. Ich habe das meinen Studenten auch immer gesagt: vergesst, was ihr in den Überblickvorlesungen gelernt habt, das ist die Geschichte der Sieger und Ideologen. Die Kunst ist etwas anderes. Nun gut, ich lerne nun auch ein wenig von mir selbst, werde daran erinnert und bestärkt, stoße an meine Grenzen.

Das Gespräch gestern öffnete mir nicht die Augen, sondern die Sinne. Immer wieder sind es die Upanischaden, die der Schlüssel sind. Ich komme mir oft wie ein Novize vor. Jedes ernste Gespräch, das ich hier führe, bringt viele neue Begriffe ans Licht, die ich nicht kenne. Meiner Gesprächspartnerin gibt das eine Idee, wie tief ich in die Vedischen Schriften, die Bedeutung der Tempel, den Code des Agama eingestiegen bin. Und ich muss natürlich zugeben, dass ich wirklich nur die Oberfläche ankratze. Sie wird aber aufgeraut, durchlässiger, in ihren Kratzern und Spuren sammeln sich Staub und Samen, es beginnt zu sprießen.

Meine Vorstellung von Kunst weist die Konzeption von Repräsentation zurück. Kriti, meine Gesprächspartnerin gestern sprach in diesem Zusammenhang von einer retinalen Haltung. In europäischen Diskussionen geht es immer nur darum, was auf der Retina passiert, nicht um das, was dahinter passiert. Die Vibration der Sinne, das Feuer der Erkenntnis, die Bewusstseinszustände jenseits der materiellen Navigation der physischen Realität.

Gleichzeitig spricht sie davon, dass es in Indien oft um das visuelle Erzählen geht. Wie passt das zusammen?

Body without organs

Ich denke an Deleuze Logic of Sensation, wie das Auge mit der Leinwand verschmilzt, das Ohr besser sieht, die Kräfte der verzerrten Körper auf der Leinwand sichtbar werden. Und wie die der letzte Farbklecks des Künstlers Francis Bacon am Ende des künstlerischen Prozesses, das Werk den intuitiven, kosmischen, zufälligen Prozessen aussetzt, um das Werk entweder zu vollenden oder zu zerstören. Deleuze spricht über Vibration, über Hingabe, über flüssige Grenzen des physischen Körpers, aber auch über einen Körper ohne Organe (body without organ) sein Denken ist da gar nicht so fern von den Kena Upanischaden. An anderer Stelle schreibt Deleuze über ‚body without organs‘ (bwo):

„Inscribed on the plane of consistency are haecceities, events, incorporeal transformations that are apprehended in themselves; nomadic essences, vague yet rigorous; continuums of intensities or continuous variations, which go beyond constants and variables; becomings, which have neither culmination nor subject, but draw one another into zones of proximity or undecidability; smooth spaces, composed from within striated space. We will say that a body without organs, or bodies without organs (plateaus) comes into play in individuation by and haecceity, in the production of intensities beginning at a degree zero, in the matter of variation, in the medium of becoming or transformation, and in the smoothing of space. A powerful nonorganic life that escapes the strata, cuts across assemblages, and draws an abstract line without contour, a line of nomad art and itinerant metallurgy.
Does the plane of consistency constitute the body without organs, or does the body without organs compose the plane? Are the Body without Organs and the Plane the same thing? In any event, composer and composed have the same power: the line does not have a dimension superior to that of the point, nor the surface to that of the line, nor the volume to that of the surface, but always an anexact, fractional number of dimensions that constantly increase or decrease with the number of its parts. The plane sections multiplicities of variable dimensions. The question is, therefore, the mode of connection between the different parts of the plane: To what extent do the bodies without organs interconnect? How are the continuums of intensity extended? What is the order of the transformational series?“ (Deleuze A 1000 Plateaus p. 507)

Ich denke das der sehr weite Begriff ‚body without organ‘ hier weiterhilft. In den Upanischaden geht es im Kern um das Verhältnis von Brahman und der Welt. Brahman, um sich selbst zu erfahren, erschafft auch sich heraus ein Selbst (Atman), ein Bewusstsein (Puruscha), das sich durch die Natur (Prakriti) realisiert. Die physische Welt ist ein Habitat für die Kräfte, die aus Brahman hervortreten – im Hinduismus als Götter. Die Konfiguration dieser Realität ist Brahman, der sich selbst erfährt. Brahman ist Atman, Einheit und Vielfalt sind keine Gegensätze, sie beinhalten einander.

Es gibt eine Parallele in der Ausrichtung an einer Philosophie der Immanenz eine nicht dualistischen Philosophie. Wie ist die Komplexität von Bewusstsein als Immanenz zu erkennen? Die erste Antwort bei Aurobindo wäre, dass die Rationalität dazu nicht in der Lage ist. Sie muss transzendiert, überschritten werden. Erst durch die Aufgabe des kleinen Selbst, des Ego werden wirklich bedeutungsvolle Erfahrungen möglich. Die Zustände von Satcitananda lassen uns an der Entfaltung des Bewusstseins teilhaben. Diese Entfaltung ist es, die Deleuze materiell beschreibt. Was Aurobindo durch die Ausdifferenzierung des Bewusstseins beschreibt, wird bei Deleuze durch die Bewegungen und Verknüpfungen des Denkens und der Sinne beschrieben.

Erzählen

Ich frage mich also, was sind das für Erzählungen? Welche Geschichten werden erzählt? Mein Eindruck ist, dass es bei vielen Werken zeitgenössischer Künstler in Indien nicht darum geht, autobiografische Geschichten zu erzählen, wenngleich die eigene Erfahrung und Biographie natürlich oft deutlich mitschwingt. Nur ist das eben nicht das Thema. Es geht nicht darum zu fragen, was die Künstler:in uns damit sagen wollte. Deshalb gibt es in der Tasmai Galerie auch keinen Erklärungstext, nicht einmal Namen, Titel etc… Die Werke sind einfach an der Wand, stehen für sich selbst.

Die visuellen Bilder stellen keine Geschichte dar. Zwar gibt es in Indien, wie in jeder Kulturtradition Narrative von mythologischer, religiöser oder imperialer Gestalt, die das Gewebe eine `cultural fabric‘ bilden. In Indien sind die vielen Gestalten aus den Epen und den Tempeln allgegenwärtig. Es ist aber für alle schwer, diese immer zu entschlüsseln. Es gibt so viele lokale Traditionen, der Subkontinent ist riesig, dass es gar nicht so sehr um Inder oder Nicht-Inder geht, die die visuelle Sprache decodieren können. Es sind persönliche Auseinandersetzungen der Künstler mit der eigenen Erfahrung. Diese Erzählungen sind so gestaltet, dass sie Anschlusspunkte erlauben – eine Rhizom, ein Plateau, eine Ebene.

Wenn ich ein Werk sehe, das auf den ersten Blick vielleicht ein wenig naiv daherkommt, ertappe ich mich, wie mein westlicher Geist retinal denkt und kategorisiert. Ziel verfehlt … Zweiter Versuch. Welche Erfahrung wir hier spürbar? Wie wandert mein Auge? Wie bewegt sich mein Körper, wo verweile ich, wo entsteht eine Verbindung zwischen meiner Erfahrung und dem, was ich sehe? Welche Gedankenbilder entstehen in meinem Geist, welche spirituelle Erfahrung wird wachgerufen? Dies sind die Fragen, die für mich in die richtige Richtung gehen.

Was passiert hier auf einer empirischen Ebene? Der Kunsthistoriker in mir fragt sich, wie kann ich darüber sprechen? Erfahrungen des Satchitananda sind schwer zu kommunizieren. Ich greife dann auf Deleuze zurück. Das Ohr sieht besser. Die Logik der sinnlichen Erfahrung ist eine Logik, die keine ist. Es ist keine Aussagenlogik, es geht nicht um wahr oder falsch. Dennoch ist es nicht zufällig, beliebig, arbiträr. Die Sinne werden durch Vibration zusammengehalten, hier führt die Kena Upanischad weiter. Wer denkt beim Denke, wer sieht beim Sehen?

„By whom missioned falls the mind shot to its mark? By whom yoked moves the first life-breath forward on its paths? By whom impelled is this word that men speak? What god set eye and ear to their workings?“ (Kena Upanishad, Aurobindo’s Übersetzung)

Es ist der Körper ohne Organe (bwo), Brahman der sich selbst erfährt, ein Bewusstsein, das das Ego transzendiert. Es gibt eine Resonanz in der Vibration. Es ist der Rhythmus, der strukturiert und verbindet. Wenn Vögel zwitschern, dann ermöglicht der Rhytmus Kommunikation, sie bilden eine Gemeinschaft, ein Habitat. So bilden sich Milieus und Territorien, innerhalb dessen sich ein Selbst erst konstituiert. Ein Innen und Außen entsteht, ein Haus wird gebaut. So entsteht Kunst. Die Theorie hinkt da immer hinterher. Mother India tells many stories.

„That is full; this is full. The full comes out of the full. Taking the full from the full the full itself remains.
Aum, peace, peace, Peace.“ (Invocation of Isha Upanishad)

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