Kinematograf – Bilder des Denkens

Während der Meditation schaue ich oft meinem Denken zu, lasse die Gedanken kommen und gehen und versuche das Denken zu entschleunigen. Gedanken kommen und gehen, und oft verstehe ich nicht, woher sie kommen, und warum sie irgendwann von einem ganz anderen Gedanken abgelöst werden. Welche Assoziationskette ist da am Werk? Diese Gedankenketten scheinen zufällig zu sein, angestoßen von Erlebnissen, die noch nachklingen und weiter verarbeitet werden.

Mich erinnert das an einen philosophischen Gedanken. Es fängt mit einer Beobachtung von Henri Bergson an. Er beschreibt den Kinematografen, ein Apparat aus dem späten 19. Jahrhundert, der sowohl Filme aufnimmt, als auch abspielen kann. Der Kinematograf nimmt viele Bilder pro Sekunde auf. In der Filmtheorie spricht man von 25 Frames per second, nehmen wir diese ruhig diese Zahl. Also 25 Bilder pro Sekunde. Wenn so viele Bilder hintereinander projiziert werden, haben wir die Illusion von Bewegung, das ist die Magie des Kinos. Natürlich, die Bewegung ist lediglich in den Zahnrädern des Kinematografen, die wahrgenommene Bewegung der Gegenstände auf der Leinwand ist eine Lüge. Bergson ist da sehr deutlich. Das Kino könne nicht das Leben einfangen. Der Elan Vital findet sich nicht im Kino. Das leuchtet erstmal ein.

Walter Benjamin

Walter Benjamin war da etwas optimistischer. Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit beschäftigt sich damit. Die Fotografie bedroht die Malerei, vielleicht… ich bin mir da nicht so sicher. Die Aura ginge verloren im technisch reproduzierten Bild, ja wahrscheinlich… hier hört die Rezeption von Benjamin dann aber oft schon auf. Interessant wird es bei Benjamin aber danach, wenn er über das Kino spricht. Die 25 Bilder pro Sekunde befreien die Schauspieler von dem Zwang der Bühne, durch den Schnitt können andere Narrative entstehen, der Raum, die Zeit werden zum Objekt künstlerischer Gestaltung. Die Kunst nutzt die Möglichkeiten des Kinematografen kreativ.

Gilles Deleuze

Gilles Deleuze treibt das quasi auf die Spitze. Seine Bücher über das Kino sind legendär unverständlich. Er fängt mit der Diskussion von Bergsons Kinematografen an. Deleuze teilt Bergsons Analyse, Bergsons Fehler sei aber, den Gedanken nicht zu Ende gedacht zu haben. Die Einzelbilder, die die Bewegung nur als Illusion erzeugen können, haben gar nicht die Aufgabe Realität zu kopieren, lebendig zu sein. Sie sind, so Deleuze, Gedanken auf Cellolid. Kino ist reine Philosophie, der Filmstreifen fixiertes Denken. Nirgendwo sonst ist das Denken so real festgehalten wie im Kino. Über Kino nachzudenken ist deshalb Philosophie zu betreiben. Deshalb sind Deleuze Analysen von Filmen so unverständlich. Wenn wir die Geschichte hinter dem Film suchen, dann sind wir bei Deleuze völlig falsch. Wenn wir aber Film als philosophisches Medium begreifen, dann hat Deleuze die Latte sehr hoch gehängt.

Wenn ich meditiere, so schaue ich manchmal meinen Gedanken zu. Das erinnert mich an Deleuze ‚Filmtheorie‘ (er hätte das wohl nie so genannt). Bei Deleuze gibt es keine Theorie, für ihn gibt es nur das Denken selbst. Er hat da einiges beigetragen, und wie er selbst in seinem ABCDaire sagt, kann man sich schon sehr glücklich schätzen, wenn man in seinem Leben eine Handvoll neuer Ideen gefunden hat. Die Bewegung des Denkens ist ein Abenteuer, Philosophie ist seine reinste Form. Theorie ihr Tod. Deleuze lesen heißt, ihn anders zu denken. Ihn zu referieren, wäre vielleicht gar eine Beleidigung.

2016 bin ich zum ersten Mal nach Indien, ich habe die Reise ReadingDeleuzeinIndia2016 genannt, ich habe das Jahr entfernt, und es ist der Titel dieses Blogs geworden. Warum in Indien? Weil Deleuze Art zu denken letztlich zutiefst spirituell ist. Er würde da nicht zustimmen, aber vielleicht würde es ihn freuen.

 

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