Soweit mein Gedächtnis zurückreicht, erinnere ich mich, dass ich immer gerne Musik gehört habe. Es ist eine Sache der Konzentration, des Genusses, der Hingabe, der Selbstauflösung. Es war mir immer ein Rätsel, was diese Kraft der Musik ist, denn sie ist ja sehr flüchtig, ephemere, sie kommt meist aus einem Lautsprecher. Ein technischer Apparat produziert Schallwellen und die Zuhörer versinken in inneren Landschaften. Was passiert da? Es ist die Vibration. In der Kenaupanischade wurde deutlich, dass die Vermischung verschiedener Vibrationen Bewusstsein konstituiert.
Ich möchte das heute versuchen, etwas zu differenzieren. Ausgehend von einem meditativen Zustand stellt sich die Frag nach der qualitativen Konstitution dieses Bewusstseins. Im Zustand hoher Konzentration werden die Sinneseindrücke von außen reduziert. Es ist nicht wirklich möglich, die Außenwelt stumm zuschalten, aber es ist eben möglich, sich so zu konzentrieren, dass die Sinneseindrücke in einer ersten Stufe eben als solche wahrgenommen werden und in einer zweiten Stufe aus dem Bewusstsein ‚entlassen‘ werden. Es ist weniger eine phänomenologische Epoche, in der die Existenz der Außenwelt in eine epistemische Klammer gesetzt wird, also die Frage nach deren Existenz offen gehalten wird, sondern eher ein Entzug der Aufmerksamkeit. Es ist eine teilnahmslose Beobachtung: Ah dieser Eindruck ist nun präsent, oder dieser Gedanke kommt, oder jene Erinnerung erscheint… All diese als das, was sie sind, vorbeiziehen zu lassen, ist eine erste Stufe der Meditation. In einer inneren Schau wird dann deutlich, wie sich Bewusstsein konstituiert.
Innere Räume
Ein Raum, der erfüllt ist von Bewusstsein, eröffnet sich. Das reagiert jedoch nicht auf Sinnesreize, sondern rein und klar ist. Hier zeigen sich die Kräfte des Bewusstseins: mein Körper (Materie), mein Atem (die Lebensenergie/Prana), mein Geist (der analysiert und visualisiert), die Erfahrung von Dasein (Entzücken/Annanda), reines Bewusstsein (Chit). In diesem Bewusstsein, das sich seiner verschiedenen Ebenen bewusst ist, bewegt sich das selbst frei. Hier begegnet sich das Selbst (Atman) mit der Seele (Puruscha) und erahnt, dass Bewusstsein an sich, das alles umfasst (Brahman) der Schöpfer ist (Sat). Hier werden dann auch die Kräfte unserer Welt als solche sichtbar: Liebe, Krieg, Mitgefühl, Genuß, Schönheit, Leid in all ihren Ausformungen. Sie sind real in unserem Bewusstsein und es ergibt wenig Sinn, sie zu leugnen. Wir erfahren sie, und wir benennen sie und wir kommunizieren und teilen sie, wir leben sie aus und verwirklichen sie, sie werden zu ganz realen Kräften der Welt, wirken in ihnen. All das ist unbestreitbar. Es ist ein wenig schwer erklärbar und deshalb tut die Wissenschaft oft so, als ob sie epiphenomenal seien, also bloß unbedeutende Begleiterscheinungen physikalischer Prozesse. Aber das ist nicht sehr klug, da es uns unserer eigenen Essenz beraubt.
Musik
Ich habe hier ein wenig ausgeholt, weil ich denke, dass dieser innere Raum einige Vorzimmer hat, und die Kunst belegt ganz viele dieser Vorzimmer. In der Musik z. B. trete ich ein in einen inneren Raum, der durch Vibrationen erzeugt wird. In ihm kann ich mich frei bewegen, denn die Musik hilft mir, alles was nicht Musik ist, vorbeiziehen zu lassen. In diesem Raum also kann ich dann innere Reisen vollziehen, deshalb gehen wir immer wieder in musikalische Räume, wenn wir glücklich oder traurig sind. Wir durchleben vergangene Erfahrungen erneut und verarbeiten sie. Dies sind grundlegende psychologische Prinzipien. Aber auch hier können wir die Leiter des Bewusstseins klettern. Unser Körper und unser Atem kann im Tanz erkundet werden, unser Geist kann die Musik visualisieren, ihre Struktur verdeutlichen, ihre Komposition, Durchführung, Interpretation vor das innere Auge bringen. Wenn ich mich aber wirklich konzentriert und kontemplativ der Musik hingeben, wie ich das am besten inzwischen bei Dhrupa von Bahauddin Dagar tue, dann wird die Musik zu reiner Sinnlichkeit (Rasa). Und plötzlich ist die Frage nicht mehr, wie ein technischer Apparat Schallwellen produzieren kann, die solch ein Bewusstsein erzeugen können. Diese Frage gehört der Welt des rationalen Geistes an. Die Musik selbst, also die Vibration, mit der sich mein Bewusstsein verschmelzt, eröffnet einen anderen Raum, einen Raum der Simulation, Kontemplation, Erkenntnis und des Lichts. Aktives Hören von Musik ist sehr nah an tiefer Meditation.
Worum es mir geht, ist der Erfahrung ihren Raum zu lassen und sie nicht in reduktionistischen Widersprüchen zu zerreiben. Musik findet in den Vorzimmern des meditativen Raumes statt. Und das ist fast identisch für Malerei, Skulptur, Tanz, Architektur, Literatur und Poesie etc… wenn ich mich auf ihre Kernqualitäten einlasse. Sie hat hier ihren Sinn. Die Frage, was Musik sei, ist zwar nicht vollständig beantwortet, aber mir ist ihre Funktion, ihr Sinn, ihre Wirkung nun etwas klarer. Es ist kein mysteriöses Geheimnis mehr, sondern ein wunderschönes Werkzeug. Sie gehört zu Saraswati.
Kunst, so scheint es mir inzwischen, wird in Indien von hier aus verstanden. Und von hier aus wird dann auch Ananda Coomaraswamy’s Kritik an westlicher Kunst als ‚retinal‚ klar.