Harmonie

Meine Morgenmeditation wird ein wenig zur Routine, wobei man das nach einer Handvoll wohl kaum schon sagen kann. Es ist eher eine Strecke, ein Weg oder eine Erkundung. Wie das Wandern in den Bergen: Den Gipfel im Blick ist Wandern durch die Pfade, auf den Graden, durch die Täler und Flüsse, an den Felswänden vorbei, durch Geröll und Gesteine, Wiesen und Wälder und jenseits der Vegetationsgrenze auf den Gletschern im Schnee wird das Gebirge zur Metapher der inneren Suche. Die Besteigung eines Berges ist ein spirituelles Ereignis. Gleichwohl kann die Meditation selbst einer Wanderung durch die Berge gleichen, durch die Täler der Gedanken, die Flüsse des Lebens, die Erinnerungsbilder an den Felsen, die schmalen Grade der Logik des Denkens, die Texturen der Sprache. Die Wege in der Meditation führen vorbei an Gedanken und Erinnerungen. Und dann plötzlich, wie auf einer Lichtung verweilend, steht der Geist still, mir wird bewusst, dass ich keinesfalls wandere, sondern ich in Stille und Konzentration, fokussiert auf das Hier und Jetzt, auf den Punkt, der die Unendlichkeit aufschließt, genau hier, von hier aus all diese Gedanken und Bilder eigentlich vorbeiziehen. Ich bin der Genießer, der Betrachter, mich gibt es nicht, die Gedanken gibt es nicht, alles ist auf einmal da in Synchronizität, eine große Schau eröffnet sich, ein Ausblick vom Berggipfel in die Welt, runter auf die Täler und hoch in den Himmel zwischen Kosmos und Welt.

Innerhalb der Erhabenheit dieser Erfahrung, das Sublime, das mich erfahren lässt, dass der Kosmos strukturiert ist, komponiert, in Veränderung und Transformation, aber regelgebunden, werden abstrakte Bezugspunkte sichtbar: Geometrie, Harmonie, Komposition. Ich denke an mathematische Konstanten oder Funktionen, an musikalische Harmonien oder Farbtheorien, an mineralische Konstruktionen oder biologische Strukturen. Blüten, die in ihrer Farbenpracht, Geometrie, Struktur, Aufbau, Entfaltung und Geruch einen Attraktionspunkt bilden.

Wo kommen diese Konstanten her? Sind sie der Baukasten Brahmans, aus dem die Welt sich als Prozess ableitet?

Jene Konstanten im Kosmos finden sich in der Kunst wieder. In eher traditionellen Kunsttheorien ist die Suche nach diesen Gesetzen der Kern von Ästhetik, göttlicher Inspiration, Genie, Sublimem oder Transzendentem. Die prästabilisierten Harmonien werden in architektonischen Prinzipien manifestiert und finden sich in Sakralbauten, öffentlichen Gebäuden oder Privatbauten je nach Funktion und Orientierung der Bauherren wieder. Buckminster Fuller verwendete das Hexagon aus der Bienenwelt als Blaupause für soziale Konstruktion. In der sakralen Kunst finden wir oft den Goldenen Schnitt als Harmoniereferenz, im sozialen Raum finden wir Fibonacci-Sequenzen als Leitbild für organische Organisation. Als jemand, der sich über Jahrzehnte mit westlicher kritischer Theorie beschäftigt hat, ist diese Entdeckung eine Offenbarung.

In einem Versuch mich aus den Fesseln der Aufklärung und kritischen Theorie zu befreien wanderte ich in die Postmoderne und lernte: Musik wird zur Landschaft der Emotionen, der Seele, der Struktur, des Zeitbewusstseins, der Antizipation. Das Bild wird zur Oberfläche, auf der die Augen wandern, die Sinne sich verbinden, neue Verbindungen entstehen und Empfindungen sich konstituieren. Die Skulptur wird zum Gegenüber, das auf etwas verweist, das im abstrakten Raum steht und im realen Raum nur ein Platzhalter ist. Die Gegenüberstellung der Skulptur in Relation zur Umgebung erzeugt einen Dialog, in den ich eintreten kann. In diesen ästhetischen Erfahrungen erfahre ich die Welt als eine mögliche, erweiterte, um Realitätsebenen bereicherte, die auf ein anderes Bewusstsein, das des Künstlers oder anderer Betrachter, schließen lässt und den Dialog, Kommunikation, Sprache erlaubt. Innerhalb der Kunst findet sich ein Spiegelbild des Kosmos. Eine Kreativität ist hier entfacht, die schöpfend und schaffend hervorbringt, zum Ausdruck bringt, was schon immer da war. Sich mit diesem schon immer Dagewesenen zu verbinden, in eine Begegnung einzutauchen, ermöglicht eine tiefe Kontemplation zentraler Prinzipien des Kosmos, so wie wir ihn erleben können. Das Lesen des Firmaments ist ein schönes Bild dafür.

Die Naturwissenschaften, die harten Wissenschaften also, finden einige Konstanten, die die Schönheit des Universums einfangen – Fraktale von Eisblumen zum Beispiel. Einige dieser Konstanten scheinen ganz zentral für die Architektur des Universums zu sein, so als ob das Universum zusammenbrechen würde, wenn man eine Zahl hinter dem Komma bei Pi ändern würde. An diesen Punkten werden Physiker spirituell. „Gott würfelt nicht“, sagte Einstein.

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