Begegnung

Seit einiger Zeit warte ich. Eigentlich warte ich gerne. Warten ist ein Raum und eine Zeit, in der es nichts anderes zu tun gibt, als darauf zu warten, dass die Zeit vergeht. In der Regel kann man nicht viel anderes machen außer lesen oder sich unterhalten, oder nachzudenken. Wartezeiten sind für mich daher immer Freiräume. Am liebsten warte ich z.B. in Bürgerzentren, hier sind alle Menschen gleich. Gemeinsam mit anderen bin ich in einem Raum, in dem es nichts zu tun gibt, als darauf zu warten, dass die Zeit vergeht. Dieses gemeinsame Warten erlaubt wirkliche Begegnungen.

Eine Begegnung hat ja immer etwas Erstaunliches. Eine Begegnung findet statt, wenn es ein Gegenüber gibt, das diese erwidert. Dabei ist die schönste Art der Begegnung die, die völlig frei ist von Zielsetzungen, oder Erwartungen. Deleuze spricht in dem Zusammenhang auch von der Begegnung mit Kunst. Das hat mich zuerst erstaunt. Denn eine Begegnung, so dachte ich immer, ist intersubjektiv. Zwei Fragen stellen sich nun: kann Kunst intersubjektiv sein, und sind Kunsträume wie Museen vielleicht auch Wartehallen?

Ein neues Leben

Mein Warten im Moment ist ein langes Warten. Seit einigen Wochen warte ich darauf, ein neues Leben anzufangen. Das Warten wird bestimmt durch das Beantragen eines Visums. Dieser Prozess der Visavergabe – Botschaften und Konsulate sowie andere staatliche Stellen – befindenden sich sowieso in einer anderen zeitlichen Dimension. Er hat etwas Kafkaeskes, seine eigene Logik, die sich von den Abläufen der Außenwelt ein ganzes Stück entkoppelt habt.

Dieses lange Warten also ermöglicht Begegnungen, aber wiederum ganz anders als ich dachte. Menschen reagieren auf mein Warten sehr stark. Viele empfinden meinen Schritt, ein neues Leben zu wagen, als Herausforderung. Sie reflektieren ihre eigene Situation, oder haben das Gefühl, dass sie mir nun Dinge erzählen können, die sie vielleicht sonst nicht erzählen würden, da ich ja sowieso ihre Lebenswelt verlasse. Vielleicht haben sie aber auch die Hoffnung, durch mich eine andere Perspektive kennen zulernen. Wie dem auch sei, ich habe recht intensive Begegnungen. Ich schütte mein Herz aus, und andere öffnen sich.

Eine Begegnung, sich begegnen, teilnehmen

Mir scheint ein wichtiges Element der Begegnung die Teilnahme zu sein. Um der oder dem anderen zu begegnen, ist diese Offenheit wichtig, sich selbst zu verlassen (Deleuze spricht manchmal von einer De-territorialisierung) und etwas anderes zu werden (Metamorphose). Wenn ich z.B. im Zug reise, oder auf einem Konzert um mich rumschaue, auf einer Parkbank sitze oder im Café, sehe ich oft Menschen, die auch um sich schauen. Viele suchen eine Begegnung. Oft sind wir zu schüchtern uns tatsächlich auszutauschen, die erste Begegnung fand aber schon statt: Sich öffnen für das andere, und die Wahrnehmung des Anderen.

Mir scheint, dass wir verlernt haben, wirklich teilzunehmen. Ein Lächeln oder kurzes Wort, ein bisschen Anteilnahme. In Indien sagen die Menschen Namaste, in dieser Begrüßung drückt die Begegnung sich aus. Es geht nicht darum, sich einen schönen Tag zu wünschen, oder Gott zu grüßen, sondern zu sehen, dass im Anderen auch Teil dessen ist, dass auch mich ausmacht.

Was hat das mit Kunst zu tun? Alles.

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