Ein Jahr Auroville
Ich habe einige intensive Jahre durchlebt. In ein neues Land zu ziehen ist immer eine starke Transformation, das war so als ich nach London bin, dann in die USA, Frankreich, nun Indien. Mir ist es immer wichtig, soweit es geht meine eigene Kultur im Hintergrund zu lassen und mich auf das neue einzulassen, das natürlich überhaupt nicht neu ist, nur eben für mich. Und so ist eine bedeutungsvolle Aufgabe – gerade im ersten Jahr – das vergessen. Platz machen im Kopf, Vorurteile abzubauen, sich dem Zauber hingeben und den Rausch ein wenig zu genießen.
Die Sinne fühlen sich ganz frisch an, das Selbst ganz jung, eine kindliche Neugierde und Naivität macht sich breit, die alles unvoreingenommen erst mal wirken lässt.
Ich bewege mich immer weiter weg von dem Ort, der mich sozialisiert hat, und mit immer klarer, warum ich das tue. Zwei Dinge gehören da zusammen, das Unbehagen in einer Kultur, die ich immer irgendwie als fremd empfunden habe und die Sehnsucht nach einer Kultur, die mehr eine Heimat wäre.
Indien
Indien war immer dieser Sehnsuchtsort, und da bin ich wahrlich nicht der Einzige. Es ist natürlich die Suche nach Spiritualität, die Menschen wie mich nach Indien bringt. Mutter Indien ruft und trägt. Das Abenteuer, das einen hier erwartete, ist schier unbegreiflich. Es kann kaum begriffen werden, weder durch den Akt des Greifens noch durch den Akt des Begreifens. Die Welt als solche zeigt sich als eine andere. Die europäischen Traditionen der christlichen Religion, des Okkultismus, Exorzismus, Aufklärung, Empirismus, Romantizismus, Transzendentalismus, Modernismus, Postmodernismus, etc. greifen hier nicht. Sie werden wahrgenommen als mögliche Sichtweisen, aber nicht mehr.
In der indischen Spiritualität geht es um ein synthetisches Verständnis des Lebens. Es geht nicht primäre um ein wissenschaftliches Bild, um die Erklärung der materiellen Welt, oder der Konstruktion einer Simulation. Im Zentrum steht in Indien die Frage nach dem Bewusstsein. Bewusstsein ist Ausgangspunkt von allem. Es hat seinen Ausgangspunkt in Bewusstsein an sich. Es ist eigentlich evident, dass Bewusstsein an sich existieren muss, ich habe eins, der oder die Lesende hat eins, wir können uns mit anderen Bewusstseinen austauschen. Warum fällt es im Westen so schwer, das zu akzeptieren? (Husserl war recht nah dran) Aber warum wird die Feststellung dieser Tatsache als spekulativ gebrandmarkt? Bloß, weil es sich dem kleingeistigen Paradigma der Wissenschaftlichkeit entzieht? Es ist nicht viel mehr so, dass nur das, was ich in meinem Bewusstsein finde, irgendeine Art von Relevanz hat? Ist das nicht, warum der Westen die sogenannte Kultur so feiert. Sie ist aber objektiviert, lädt nicht zu einem ernsthaften Austausch über unsere eigene Existenz ein, sondern zu einer diskursiven Reflexion. Sie ist repräsentativ, sie repräsentiert etwas als etwas anderes und sie wird genutzt um zu repräsentieren, das heißt Macht und Ohnmacht zu kommunizieren.
Abenteuer
Es ist dieses Abenteuer des Bewusstseins, das das Reisen im indischen Kosmos so faszinierend macht. Natürlich muss man seinen Skeptizismus zähmen und das öffnet sofort Pforten für alle möglichen Arten der Weltsicht. Viele sind mir sehr fremd. Sie haben aber eine subjektive Gültigkeit. Es wäre anmaßend, mein Bewusstsein, über das eines anderen stellen zu wollen. Die Widersprüche, die das erzeugt, gilt es erst mal auszuhalten. Das ist nicht einfach und ruft eine große Anzahl von Krisen in mir hervor. Krisen im Sinne einer Orientierungslosigkeit und einer Unruhe und Ungeduld. Das schöne ist aber, dass sich diese Krisen schnell umformen lassen in Chancen. Es sind Einladungen zu Meditation. Ein Abenteuer der inneren Synthese.
Diese Synthese ist aber nur möglich, wenn ich mir eingestehe, dass meine Existenz nicht nur aus rationalem Bewusstsein besteht. Ich einen materiellen und biologischen Körper, einen Lebensgeist und rationales Denken, ich habe eine Weltsicht und bin der Erfahrung des Sublimen fähig. Ich kann höhere Bewusstseinsstufen erreichen, die sich über das Reiz-Reaktionsschema hinaus bewegen. Und ich kann mich der großen Frage nach unserer Existenz nähern. Ich kann sie nicht beantworten, mich aber in ihrer Nähe aufhalten. Viele Fragen, die sich dem rationalen Geist als Dilemma darstellen, sind auf anderen Ebenen meiner Existenz nahezu irrelevant, oder lösen sich dort gar auf.
Dieses Abenteuer wird möglich durch eine ganze Reihe verschiedener Wissenssysteme, die ihren Ursprung in der Vorzeit haben, also der Zeit vor der Schriftsprache. Das Komplexe System der Vedas würde ja nicht über Nacht geschrieben. Es gilt, dass sich das darin enthalte Wissen den Rishis offenbart hat. Und egal wie skeptisch man dieser Vorstellung gegenüber sein mag, eine ganz zentrale Frage bleibt. Wo kommt die Vorstellung einer Schöpfung her? Und noch wesentlich bedeutender, was ist die Schöpfung? Wie konnten am Anfang der Geschichte, der geordneten Zeit, so komplexe Wissenssysteme entstehen? Was sieht die Sicht nach innen? Wer hört beim Hören, wer sieht beim Sehen?
Tempel
Ich habe beschlossen, mich der indischen Kultur durch die Tempel zu nähern. Sie sind unendlich komplex und ich muss mir gegenüber geduldig sein. Es braucht mehrere Leben um hier auch nur die Oberfläche zu kratzen, dennoch möchte ich versuchen, eine Annäherung zu versuchen und festzuhalten. Es wird dilettantisch werden, aber vielleicht gerade deshalb doch auch interessant.
In den Tempeln vereinigt sich das Wissen der Vedas, der Agamas, Tantras… Es ist Architecture, Skulptur, Tanz und Musik. Se sind Orte der Anbetung, des Lernens und des Zusammenkommens. Sie sind eingebettet in die Ökonomie, Ökologie und Sozialstrukturen. Sie sind verwunden mit der Kosmologie, Meditation, und Spiritualität. Der Bindu, die Mantras, Yantras, Tantras, beschreiben die Beziehung den einzenen Bewusstsein zum großen, zum einen. Einheit und Vielfalt, manifestieren sich im Tempel. Sie sind lebendiger Kern indischer Spiritualität. Viele Traditionen scheinen ungebrochen seit Jahrtausenden zu existieren.
Ich verfolge immernoch mein Projekt Deleuze in Indien zu lesen. Abgesehen von schwierigen Ideen wie der Immanenz bei Deleuze interessiert mich bei Deleuze das Haus in Bezug zur Kunst:
“Die Kunst beginnt vielleicht mit dem Tier, zumindest mit dem Tier, das ein Territorium absteckt und eine Behausung errichtet (beides ergänzt sich oder verschmilzt bisweilen im sogenannten Habitat). Mit dem System Territorium/ Haus verändern sich viele organische Funktionen – Sexualität, Zeugung, Aggressivität, Nahrung; aber nicht diese Veränderung erklärt das Auftreten von Territorium und Behausung, eher umgekehrt: das Territorium impliziert die Emergenz von reinen sinnlichen Qualitäten, sensibilia, die nicht länger bloß funktional sind, statt dessen Ausdrucksmerkmale werden und darin eine Transformation der Funktionen ermöglichen. Gewiß ist diese Expressivität bereits weit im Leben verstreut, und man kann sagen, daß schon die Feldlilie den Ruhm der Götter preist. Doch erst mit Territorium und Haus wird sie konstruktiv und errichtet die rituellen Monumente einer Tier-Messe, die die Qualitäten feiert, bevor sie aus ihnen neue Kausalitäten und Finalitäten gewinnt. Diese Emergenz ist bereits Kunst, nicht nur in der Behandlung äußerlicher Materialien, sondern in den Stellungen und Farben des Körpers, in den Gesängen und Schreien, die das Territorium markieren.” (Deleuze, Gilles, Félix Guattari, 2003. Was ist Philosophie? p.218)
Mich fasziniert bei Deleuze, dass seine Philosophie im wesentlich beschreibt, wie Ideen in Existenz treten. Sie treten aus der Implizitheit, der Immanenz heraus. Ideen werden aktiv, sie fliegen, bilden eine Fluglinie und verbinden sich so. Sie erzeugen Komplexität. Diese Art zu denken, die ohne eine Axiomatik auskommt und ohne Ideologie scheint mir strukturell sehr ähnlich zu dem Denken der Upanischaden. Brahman entfaltet sich selbst um sich erfahren zu können. Wo anders als im Tempel ließe sich das am besten erfahren?
Ich sitzt also viel in Tempeln, hören den Gesängen zu, beuge mich vor der Vergänglichkeit, indem ich Asche auf mein Haupt schmiere. Aus der inneren Kammer Garbhagriha breitet sich die Vibration aus und manifestiert sich im Bildern an den Wänden der Tempel. Die Garbhagriha wird nur vom Priester betreten, er rezitiert die Mantras für die Gläubigen. Die Glocke, die Räucherstäbchen, die Waschung und Bettung der Götter, all diese geschieht in der Garbhagriha. Hier ist der Ursprung. „das Territorium impliziert die Emergenz von reinen sinnlichen Qualitäten, sensibilia, die nicht länger bloß funktional sind, statt dessen Ausdrucksmerkmale werden und darin eine Transformation der Funktionen ermöglichen.“ (s.o.)