Ich hatte das Glück einen 3-tage Intensivworkshop im Sunlit Path mit Niloy erleben zu dürfen. Ganz im Gegensatz zu der Tradition des langsamen, konzentrierte, hingebungsvollen lernen über Jahrzehnte hinweg von einem Guru führte Niloy ein in die Welt des Dhrupad. Für jemand wie mich, der sich zutiefst hingezogen fühlt zu dieser meditativen und philosophisch Klangkunst, war das ein Geschenk. Dhrupad ist so komplex, dass eine Einführung gut tut.
Was ist ein Ton?
Die klassische westliche Harmonik unterteilt eine Oktave in 8 Töne, nimmt man die Halbtöne hinzu, sind es 12. Jeder dieser Töne kann als Grundton für eine Tonskala dienen, diese kann wiederum in Dur oder Moll ausgerichtete sein. Werden die Halbtöne von einem unteren Ton auf einen höherer ‚gerechnet‘ ist dieser strahlend, eine Durtonleiter ist erzeugt. Wird der Halbton von einem Höheren runtergerechnete, ist dieser etwas tiefer, die Tonleiter ist etwas dunkler. Johann Sebastian Bach hat mit seiner wohltemperierten Stimmung des Klaviers dieser Halbtöne gemittelt, da sie sich eigentlich nur im Mikrointervall unterscheiden. Der Vorteil liegt technisch auf der Hand: Das Klavier kann alle Harmonien spiegel, der Harmonische Zirkel ist auf dem Klavier implementiert. Als Pianist und Organist war ihm das wichtig. Für die Musikgeschichte erzeugte es eine Harmonik der Pragmatismus. La Monte Yung stimmte das Klavier für eine Well-tuned Piano wieder mathematisch sauber. Als ich das zum ersten Mal hörte, war das eine unglaubliche Befreiung. Die ganze Zeit hatte ich nur Musik gehört, die wohltemperiert war und nicht well-tuned. Es sind aber genau jene feinen Unterschiede, die bei Dhrupad im Zentrum stehen.
Nada Yoga
Nada Yoga der Yoga des Klangs ist die Erkundung des Klangs, der Töne, der Vibration. Niloy erzählte ganz nebenbei anekdotisch, dass einer seiner Schüler etwas skeptisch war in Bezug auf seine Fähigkeit Mikrointervalle zu hören und zu singen. Er brachte ein Messgerät mit und an diesem Tag, ein ganz normaler Tag für Niloy, ein durchschnittlicher Tag also, an diesem Tag konnte Niloy 17 Mikrotöne in einem Tonintervall produzieren, das heißt mit seiner Stimme halten. Bei einer Oktave mit 8 Tonintervallen wäre das also 133 Mikrointervalle. Auf einem anderen Workshop mit Ustad Bahauddin Dagar, demonstrierte Dagar auf der Veena 7 Mikrotöne in einem Tonintervall, die wir alle gut nachvollziehen konnte. Allerdings sagte Dagar, dass er mit mindestens 12 Mikrotönen arbeitet und wesentlich mehr zur Verfügung stehen. Aber eben nicht jeder das nachvollziehen kann. Um das tun zu können, muss das Ohr und die Stimme und das Instrument geübt werden – Nada Yoga. Die Sinne schärfen, erkunden, was die Welt des Klangs des menschlichen Wahrnehmungsapparates zu bieten hat.
Upanischaden
Die Kena Upanischade fragt, wer beim Hören hört, wer beim Sehen sieht, wer beim Denken denkt. Wer hört, wenn ‚ich‘ höre? Was ist hören? Welche Verbindung erzeugt das Hören zur Welt? In den Upanischaden ist die Grundlage der Welt wie wir sie kennen Vibration, die Physik sagt Energie. Vibration ist eine Schwingung, Materie schwingt, Licht schwingt, Klang schwingt. Schwingungen sind die Basis. In der Physik kommt hier nicht Kraft hinzu: Gravitationskraft und Impulskraft z.B. Ausgespart bleibt die Kraft des Bewusstseins. In den Vedas sind Kräfte mit den Kühen und Pferden versinnbildlicht. Sie stehen für die Kräfte des Universums. Und wenn man einige Tausend Kühe auf Indiens Straßen gesehen hat, wird auch allmählich klar, wo dieses Bild herkommt.
Aber zurück, der Klang als Vibration, der also von wem gehört wird? Es gibt eine Vibration in der Welt, es gibt einen Wahrnehmungsapparat, der diese Vibration aufnimmt und übersetzt und es gibt ein Bewusstsein, das diese erlebt. Die Rishis wussten, dass das Bewusstsein strukturell ähnlich sein muss wie das, was die Welt konstituiert und was die Sinne vermitteln. Wie sollte auch anders funktionieren? Da in dieser Denktradition Vibration die Basis von allem ist, gibt es natürlich ein Bild und eine Urform, das ist OM, der Urklang und er ist beschrieben in der Mandukia Upanischad. In der Nada Yoga geht es nur auch darum, diesen Zusammenhang zu erkunden. Die älteste Tradition dies zu tun ist Dhrupad.
Dhrupad
Nach diesen kurzen Überlegungen verwundert es nicht, dass die Ragas nicht notiert sind. Es gibt kein Notationssytem für Dhrupad. Eine Raga ist eigentlich nur eine Tonskala, die als Grundlage für eine Praxis dient. Es gibt morgen, mittags und abends Ragas und natürlich früh morgens und spät abends und sonnenhöchstand Ragas, Monsun Ragas und Festragas usw. Die über 3000 Jahre alte Tradition des Dhrupad, die Urform klassischer indischer Musik hat über die Jahrtausende viel wahrgenommen. Wer hört beim Hören? Was ist Dhrupad? Es wird klar, dass es hier sehr schnell philosophisch wird.
Dhrupad ist eine lebendige Tradition, sie wird von Lehrern an Schüler weitergegeben. Ein ganz zentrales Element des Dhrupad ist die Erkundung von Tönen, Zwischentönen und dem Weg von einem Ton zum nächsten. Wenn eine Monsun Raga, Rag Megh z.B., eine Skala von 6 Tönen bildet: Sa, Re, Ma, Pa, ni, Sa‘ so ist das das Grundgerüst. Zwischen den Tönen gibt es unzählige Phrasierungen. Und statt Sa‘, Re, Ma, Pa, ni, Sa können Silben verwendet werden, die sich z. B. aus dem Bījamantra ableiten. Es wird also schnell sehr komplex. Das Erlernen von Dhrupad ist das Lernen dieser unzähligen Techniken. Eine Ausführung einer Raga – ich sträube mich Aufführung zu sagen, denn es geht natürlich nicht um eine Konzertform, sondern um Nada Yoga – eine Ausführung also ist eine sehr strukturierte Meditation, die nur ausgesprochen oberflächlich einer Jazzimprovisation gleicht. Keine Raga ist gleich.
Wenn man sich nun der Welt des Dhrupad öffnet, so geht es um ein ganz anderes Hören. Es gibt keine richtigen oder falschen Töne. Einen Ton zu erzeugen heißt ihn hervorzubringen. Wo kommt er her? Beim Singen fängt es mit dem Atem an, mit dem Körper, der Sitzhaltung, einem ruhigen Geist. Unsere Stimme ist kein technischer Apparat. Das Ansetzen eines Tones ist der Schwingen lassen der Stimmbänder. Den ‚richtigen‘ Ton zu finden, ist eine Suche auf diesen Stimmbändern. Profis sind so schnell und präzise, dass ein Zuhörer das nicht hört. Genau darum geht es aber bei Dhrupad. Wie erzeuge ich einen Ton, steuere ich von unten noch oben auf ihn zu oder von oben nach unten? Umkreise ich ihn oder halte ich ihn, gebe ich Nachdruck, ziehe ich ihn heran oder projiziere ich in. Bevor ich also den ersten Ton hervorbringe, bin ich eigentlich schon um Mysterium der Welt. Es geht immer um Vibration – OM. Nun, da die erste Vibration da ist, wie geht es weiter? Wie komme ich zum nächsten Ton? Was ist Klang? Es geht hier also gar nicht so sehr um den Begriff der Musik. Es ist Nada Yoga.
Sprache
Mich fasziniert natürlich die Verbindung zur Sprache. Sprache ist Klang, Mantras sind Wissen in seiner kompaktesten Form, OM in seiner kürzesten Form beinhaltet den Atem, den Sprechapparat, die Chakren. Dhrupad spürt in Form von Nada Yoga diesem Wissen nach, aber ist sich des Werkzeugcharakters bewusst. So wie das Zeigen auf etwas eben auf etwas verweist und kein Selbstzweck ist (der Zeigestock ist nicht das, auf das er verweist), so ist die Erkenntnis im Dhrupad jenseits von Sprache und Klang. Die Silben des Bījamantra werden so reduziert, dass ihre sprachliche Referenz aufgelöst wird. Das, worum es geht, kann weder in Sprache noch in Musik ausgedrückt werden. Die Suche nach der Wahrheit ist ein Pfad, Nada Yoga einer seiner Wege, Dhrupad seine Form. Dhrupad beinhaltet alles, was wichtig ist, sagt Niloy.
Man könnte auch sagen, es sei reine Dekonstruktion im Sinne postmoderner Philosophie.