Hier in Auroville wurde neulich ein Theaterstück von den Hausherren des Bharat Nivas vom Program genommen. Die Begründung war, dass einige in der Community Anstoß daran genommen hätten, noch bevor es aufgeführt wurde. Das wirft Fragen auf. Was darf Kunst, wann ist ein Verbot gerechtfertigt? Daran gekoppelt ist natürlich die Frage, was ist die Aufgabe der Kunst, was soll Kunst also tun? Die Frage lädt ein darüber nachzudenken, was die Rolle der Kunst ganz allgemein ist, hier in Indien und im Westen. Und weil diese sehr grundsätzliche Frage sich nicht nur über den indoeuropäischen Raum erstreckt, sondern ein ganzes Feld unterschiedlichster Kulturen abdeckt, möchte ich ihr auch noch eine zeitliche Dimension geben.
Fangen wir vorn an, z.B. bei den Griechen der Klassik. Hier gibt es einerseits die Frage nach dem Schönen (Form, Funktion, und/oder Proportion) anderseits aber auch die Frage nach der Rolle der Kunst innerhalb der Philosophie (techne, mimisis, aisthesis). Im Kern geht es bei dieser Begriffskonstellation um das Verhältnis des Subjekts zur Außenwelt als Objekt. Wie nehmen Menschen Welt wahr, wie und warum imitieren wir Welt z.B. im Theater, oder in Skulpturen? Welche Technik, welches Handwerkszeug setzten wir dabei ein, die Welt zu formen, ihr eine Funktion zu geben, oder schöne, d.h. mathematische Proportionen herauszuarbeiten? Es geht also um die Beziehung von Mensch zu seiner Umwelt in einem gestaltenden Verhältnis.
Kunst wird erschaffen, hervorgebracht, ist Ausdruck eines Subjekts, das die Objektwelt gestalterisch formt. In der Kunst des Abendlandes sehen wir den Künstler und seine Vision. Das hat sich trotz all der rasanten Entwicklungen der europäischen Kunstgeschichte bis heute nicht grundlegend geändert.
Ganz anders in der ‚indischen‘ Kunst. Klassische indische Kunst drückt Gefühle aus, die allgemeingültig sind. Gefühle der Spiritualität, menschliche Emotionen, Kräfte, die in der Welt wirken. Der Künstler ist dem Kunstwerk nachrangig, eigentlich unwichtig, denn nur das, was in dem Kunstwerk ausgedrückt ist, zählt, denn es ist ein Abbild von Kräften, die im Kosmos wirken. Der Künstler hat sie bloß sichtbar gemacht. Und hier rührt das Missverständnis her, dass die Kunst Indiens in weiten Teilen der Kunst des europäischen Mittelalters gleicht, da es dort auch keinen Künstler gab, wie ihn die Antike oder die Renaissance kannte. Was ist der Unterschied?
Textualität und Interpretation
Es gibt einen wichtigen Unterschied. Das westliche Auge, oder Ohr, der westliche Geist, sucht im Kunstwerk das, was interpretiert werden kann. Dies kann eine intrinsische Eigenschaft sein wie z.B. wie Schönheit, oder eine technische Meisterschaft, eine ikonographische Referenz, das Genie des Künstlers, ein Objekt, das Teil eines Diskurses ist, ein Gegenstand der Reflexion, oder ganz ‚einfach‘ ein Abbild, eine Darstellung oder eine Repräsentation. Die Liste ließe sich lange weiterführen. Im wesentlich geht es aber immer um eine Interpretation. Wenn ein Kunstwerk Gegenstand einer differenzierten Interpretation ist, dann gilt es als ein gelungenes, großes Kunstwerk. Ist es ein Objekt, das Gefallen auslöst, so steht es unter dem Verdacht ‚bloß‘ Design zu sein, Kunsthandwerk, oder Kitsch.
Auf diese Art hat der Westen eine Kulturlandschaft hervorgebracht, die auf Interpretation beruht. Und Interpretation ist letztlich eine kritische Analyse im Medium der Sprache, d.h. sie ist textuell. Die Begegnung mit Kunst ist eine des Nachdenkens über Kunst. Die Kontemplation, die auch in den westlichen Diskursen der Kunsttheorie immer wieder thematisiert wird, ist eine Vorstufe dieses Nachdenkens. Kontemplation wird im Nachgang reflektiert und ausgedrückt und damit ihrer Kraft beraubt.
Das Sublime
Die ästhetische Erfahrung, die sich diesen diskursiven Tendenzen entzieht, geht in den Bereich des Erhabenen, des Sublimen, einen Bereich der säkularen Transzendenz, d.h. an die Grenze der Sprache. Denn auch die Grenze des Textuellen ist Teil des Diskurses, nur eben als Abgrenzung und Verweis auf das Unsagbare. Bei diesem Verweis belässt es die westliche Kunsttheorie jedoch zumeist. Ein weiteres Sprechen über das, was nicht sagbar ist, wäre paradox. Und so geht der Betrachter im Westen in die Kunsttempel, die Museum und Galerien, die Kirchen und archäologischen Stätten, die urbanen Orte oder die Natur, um zu interpretieren, was sich dort präsentiert, oder aber vor dem Unsagbaren zu verstummen.
In den Traditionen, die auf monotheistischen Religionen basieren, kommt der Kunst daher die Rolle des Erzählens zu, d.h. die Geschichte der Religion wird erzählt. Die spirituelle Kraft der Kunst unterliegt einem zunehmenden Prozess der Abstraktion. Kunst wird zunehmend säkular, materialistisch, kapitalistisch, Religion hingegen zunehmend plakativ transzendent. Religion verweist auf ein Jenseits wo das persönliche Leben eine Fortführung findet. Dieses Jenseits ist hier natürlich nicht erfahrbar, nicht aussprechbar, wird zugleich aber als ein Abbild unserer Realität gedacht, wenn auch idealisiert.
Es gibt daher verschiedene Formen der Repräsentationen von Realität. Und so ist die Kunst ihrer Kraft des Wunders beraubt. Sie wird zur ‚Erzählkultur‘, einer Kultur der Repräsentation und Gegenstand verschiedener Kulturtechniken, sie wird Teil des Logos. Doch gibt es ein klares Verlangen, sich dem Unsagbaren, dem Erhabenen zu nähern. Denn dieses Unsagbare entzieht sich nicht der Erfahrung, es ist nur nicht durch den rationalen Geist erfassbar. Das Problem liegt darin, dass der rationale Geist der Logik einer Systematisierung der Welt durch den Logos folgt. Im Westen herrscht die Idee vor, dass der Logos die Welt erklären kann, und dass andere Zugangsweisen zur Welt diesem Logos unterlegen sind, und durch ihn erst systematisiert werden müssen: das gilt z.B. für die Intuition, das Gefühl, das Bewusstsein, die Erfahrung des selbst, und die Erfahrung dessen, was das Selbst übersteigt. Diese Phänomene werden in der westlichen Kultur als unaufgeklärt verstanden. Und so entsteht ein Verlangen nach dem Erhabenen, das aber als unaufgeklärt verteufelt wird. Kultur unterdrückt. Bei Freud ist Kultur sublimierte Sexualität. Da ist in der Beschreibung für den Westen etwas dran.
Brahman
In der indischen Kunst scheint es geradezu anders herum zu sein. Die indische Kunst bringt etwas hervor, das sich der Sprach entzieht. Die Tradition spricht von Rasa1, einer Vibration in der Wahrnehmung, die oft mit Geschmack übersetzt wird, aber nicht im Sinne eines guten Kunstgeschmacks, sondern im Sinne einer Qualität, die durch ein Kunstwerk evoziert wird. Diese Vibration im Kunstwerk erzeugt eine Vibration im Betrachter und verbindet das innere Selbst des Betrachters mit der Qualität, die im Kunstwerk evoziert wird, welche wiederum Zeugnis einer Kraft ist, die hinter der oberflächlichen Realität steht.
In der Indischen Philosophie herrscht der Grundgedanke vor, dass Brahman, das höchste Sein, das alles umfasst, sich selbst erfahren will. Nur aus diesem Grund tritt Brahman aus der vollkommenen Existenz heraus und entfaltet sich in der physikalischen Welt. Der Zyklus der Welt, die Weltenseele, das einzelne Bewusstsein, die universellen Kräfte, all das ist Brahman, der sich selbst erfährt. Brahman ist daher für uns nicht denkbar, wir sind Teil von Brahman, Brahman ist in uns, alles ist Brahman. Kunst kommt hier die Rolle zu, einige dieser Kräfte darzustellen. Kunst lässt den Betrachter wundern. Eine Qualität, die im Kunstwerk zum Ausdruck kommt, wird als Rasa erfasst. Sie kann nicht direkt in Sprache ausgedrückt werden. Die Statue eines Gottes ist Ausdruck einer Eigenschaft, einer Kraft im Kosmos, die erfahrbar (schmeckbar, fühlbar) geworden ist. Die Tatsache, dass der Betrachter und der Künstler mittels des Kunstwerks eine Rasa evozieren, bedeutet, dass diese Wahrnehmung, das Bewusstseins, die Erfahrung, die Vibration des Bewusstseins da ist.
Dasein
Was meint Dasein hier? Dasein sollte hier nicht in einem dualistischen Sinn verstanden werden, so als ob eine Eigenschaft in einem Kunstwerk von einem Betrachter wahrgenommen wird, und diese Eigenschaft eben im Kunstwerk da sei. Sondern Dasein heißt hier vielmehr, dass eine Kraft des Kosmos, ein Teil von Brahman sich entfaltet und sichtbar geworden ist. Sichtbar nicht in dem Sinne, dass ein Betrachter etwas in einem Kunstwerk sieht, sondern, dass eine Kraft sich in einem Kunstwerk zeigt und im Betrachter eine Rasa evoziert, die ihn an der Kraft teilhaben lässt. Daher sind die Götterstatuen in Indien belebt. Die Götter sind in ihnen. Wenn die Kräfte durch Anbetung – Puja – besänftigt werden, dann sind sie da. Die Hingabe an das universale Prinzip ist Bhakti, es definiert auch eine Haltung in der Beziehung zwischen rituellem Objekt und den Gläubigen. Der Betrachter interpretiert nicht oder urteilt nicht über ein externes Objekt, sondern die Seele gibt sich den Göttern hin. Diese Hingabe wird durch ein Medium, ein Kunstwerk, erleichtert.
In Indien ist Kunst immer noch Teil des kosmischen Zyklus, Teil von Brahman, sie ist belebt, so wie der ganze Kosmos belebt ist. Tempel, Statuen, Gedichte, Tanz, Musik sind Teil des Kosmos, Teil der kosmischen Kräfte, sie sind Teil von Brahman, und sie ermöglichen es dem Betrachter Aspekte von Brahman klarer, deutlicher, lebendiger zu sehen. Kunst heißt sich wundern zu können, zu schmecken, was sonst schwer zu finden ist – Rasa2. In der Indischen Kunst ist Brahman präsent. Das Dasein der Kunst ist die Präsenz von kosmischen Kräften, Göttern wie man hier sagt.
Zurück zur Eingangsfrage: Was darf Kunst?
Ich frage mich nun, was diese Überlegungen für die Ausdrucksfreiheit der Kunst bedeuten? In der westlichen Tradition ist es selbstverständlich, dass die Diskursivität der Kunst eine Streitkultur nicht nur zulässt, sondern hervorbringt und kultiviert. Kritik, Meinungsverschiedenheit, Satire, Zensur, sind Teil des Kulturbetriebs, und das Erkunden der Grenzen gehört zur Praxis. Welche Rolle kommt aber z.B. der Satire in der Indischen Kunst zu? Welcher Aspekt von Brahman wird hier realisiert? Kann nicht alles gezeigt werden? Auch die Götter lachen doch und weinen, sind zornig oder heroisch.
Mir kommt hier eine Frage: Im Westen ist Kunst oft Teil von politischer Kultur. Politik wird auf die Bühne gebracht und Kunst interveniert in der Gesellschaft und der Politik. Im 20. Jahrhundert war die Forderung an die Kunst, ihre Verantwortung in der Gesellschaft stärker wahrzunehmen und an politischen Diskursen teilzunehmen. Gilt das aber auch für Kunst in dem von Kolonialismus gebeutelten Subkontinent Indien? Indien mit seinen vielen Sprachen, Kulturen, Religionen ist ein so buntes, tolerantes Land, das sich aus einer wie auch immer gearteten Verbindung zur Spiritualität speist. Die weltweit größte Demokratie gewährt bis dato weitestgehend Meinungsfreiheit. Doch wenn ich mit Kulturvertretern hier spreche, so verweisen viele auf die Tradition, auf die Rolle der Kunst spirituelles Wachstum zu fördern. Ich höre hier auf dem Land selten, dass Kunst einen politischen Auftrag hat.
Zugleich waren aber z.B. auf der Kochi Biennale viele kritische Stimmen zu hören. Ein großer Teil der Kunst dort bezog sehr deutlich politische Stellung zu aktuellen Themen wie Klimakrise, Gleichberechtigung, Verfolgung von Minderheiten, Ausbeutung und Korruption. Mir war die künstlerische Sprache dieser Positionen sehr vertraut, sie lehnte sich an Ausdrucksformen des Westens an.
In Indien prallen diese zwei Welten aufeinander. Der Siegeszug des Kapitalismus und seiner säkularen, d.h. materialistischen Struktur macht auch vor Indien nicht halt. Ob die Instrumente dieser Kulturindustrie helfen die Opfer eben jener Kulturindustrie zu retten, bleibt abzuwarten. Traditionalisten versuchen sich durch eine Zurückweisung der Moderne vor diesen kolonialen Strukturen zu schützen. Das wird im Westen als rückständig und konservativ wahrgenommen.
Der Kulturkampf ist auch hier in Auroville voll im Gang. Wenn zur Zeit, im Jahr 2023, von einer neuen Globalen Ordnung die Rede ist, so geht auch um diesen Kulturkampf.
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1 Rasa kommt aus den dramatischen Künsten, Dichtung, Tanz und Theater. Ich möchte Rasa aber hier etwas weiter verstehen.
2 In der Dichtung, der Grundlage von Theater und Tanz sind die Rasa wohl definiert: Die vier primären Rasas sind: Liebe/Erotik (Śṛngāram), Heldentum (Vīram), Wut (Raudram) und Ekel (Bībhatsam). Aus ihnen abgeleitet sind: Humor (Hāsyam) von der Liebe (Śṛngāram), Mitgefühl und Pathos (Kāruṇyam) von der Wut (Raudram), Wunder und Magie (Adbhutam) vom Heldentum (Vīram) und Furcht (Bhayānakam) von Ekel (Bībhatsam). Über Jahrtausende hat sich ein sehr differenzties System entwickelt wie verschiedene Aspekt der menschlichen Psyche dargestellt werden können und welchen Göttern sie korrelieren.