In Indien werden seit 3000 Jahren die Bücher der Vedas im Gedächtnis behalten. Die Rigveda (10,552 Verse), Samaveda (1549 Verse), Yajurveda (4001 Verse) und Atharvaveda (5977 Verse) sowie die Upanischaden (ca. 1800 Verse) werden von Generation zu Generation weitergegeben. Die Grammatik des Sanskrit hat sich nicht wesentlich verändert und die Aussprache ist durch exakte phonetische Beschreibung genaustens überliefert. So klingen diese Texte heute genauso wie vor 3000 Jahren. Sie sind in Form von Mantras geschrieben, d.h. in Versform und der Wahrheit verschrieben. Dem Rezitieren, sogar dem bloßen Zuhören werden Kräfte zugeschrieben, denn die Sprache des Sanskrit entstammt der Legende nach Shiva: seine Trommeln erzeugen Vokale, aus ihnen entstehen die Konsonanten, daraus die Grammatik und schließlich die Sprache.
Das Pedant zur Sprache der Vedas sind in der Musik die Ragas. Des Weiteren steht Yoga in Beziehung zu den Vedas, ebenso Ayurveda und Tantra. Dieser Schatz von Weisheit wurde von den Rishis durch tiefe Meditation wahrgenommen und in Mantras festgehalten. Die strikte Kodierung in Versform sicherte eine fehlerfreie Überlieferung über Jahrtausende. Auch heute noch leben tausende Menschen in Indien, die die Vedas auswendig können und regelmäßig rezitieren.
Weitergabe von Wissen
Es gibt zwei Formen der Weitergabe dieses Wissens. Die konventionelle Form des Lernens durch Übung und Wiederholung. Es ist notwendig damit schon in früher Jugend anzufangen und es erfordert die Hingabe eines ganzen Lebens diese Fähigkeit zu entwickeln und am Leben zu halten. Die zweite Form ist die Weitergabe eines Sehers an seinen Schüler. Diese Form ist für den rationalen Geist schwer nachzuvollziehen. Innerhalb von Wochen wird das Wissen übertragen. Die Beziehung zwischen Guru und Schüler ist natürlich eine ganz besondere. Das ist selten. Es wird auch von noch mystischeren Transfers berichtet.
Da es sich hier um ein Wissen handelt, das in der Meditation erfahren wurde, ist das ein Wissen, das anders ist als empirisches Wissen, das wir durch unsere äußeren Sinne gewonnen haben, oder rationales Wissen, das wir durch Deduktion gewonnen haben. Die westliche Vorstellung, dass – extrem verkürzt – die äußere Sinnesreize ins Gedächtnis eingeschrieben und durch Erinnerung abgerufen werden können, greift hier nicht. Auch die Ansätze der Transzendentalen Philosophie greifen hier zu kurz, da sie tiefen Strukturen innerhalb unseres Denkens suchen.
Das Wissen der Vedas bezeugt eine wesentlich differenziertere Beschreibung unseres Bewusstsein. Den allgemein akzpierten drei Zuständen von Materie, Leben und Geist korrespondieren in den Vedas auf einer höheren Bewusstseinsebene Sat-Chit-Ananda (Existenz, Bewusstsein, Bliss). Eine siebte Ebene – Vijnana – ist das Bindeglied. Durch diese Form höherer Erkenntnis wird Sat-Chit-Ananda eröffnet. Das Ganze ist wundervoll komplex, reich und schön und wird unserer menschlichen Existenz viel mehr gerecht als die dominierende reduktionistische Sichtweise der sogenannten Aufklärung und wird durch die 7 Flüsse oder tiefen Wasser beschrieben. Natürlich kommen hier auch noch die Götter hinzu, aber das ist erstmal eine andere Geschichte. Mir geht es ja hier um das Gedächtnis.
Die Vedas haben diese höheren Ebenen erschlossen. Sie werden von Generation zu Generation mündlich weitergegeben. Daher sind sie auch als immaterielles Weltkulturerbe anerkannt. Dieses Wissen speist sich aus einer Schau und wird immateriell, wie das olympische Feuer weitergetragen. Es zeugt von einem Ursprung in den ältesten zusammenhängenden Texten der Menschheit.
Gedächtnis und Bewusstsein
Ähnlich wie die Kunst Zeugnis gibt von einer inneren Erfahrung, oder die Erfindung oft auf einer Inspiration beruht, so ist unsere spirituelle Existenz einer Schau verbunden. Die Frage nach dem Sinn unseres Lebens beantwortet sich nicht in Kausalketten oder Deduktionen. Diese Frage verweist auf einen anderen Zusammenhang. Wie ist eine solche Schau möglich und was für eine Art von Gedächtnis ist dafür nötig? Ich meine damit nicht die Gedächtnisleistung sich c. 25.000 Verse zu merken, sondern die Frage nach der Art von Bewusstsein, die sich hier zeigt.
Der Geist kann innerhalb der Bewusstseinsebenen sich frei bewegen, in nahezu unendlicher Geschwindigkeit kann er von einem Ort zum anderen schweifen, durch die Zeit hindurch springen und neue Welten erschließen – all das zu mindesten in der Erinnerung, dem aktivierten Gedächtnis. Doch ist es mehr als nur ein sich in Erinnerungen verlieren. Die Zustände von Sat-Chit-Ananda sind real. Indien ist von Menschen, die alles aufgegeben haben, um sich diesem Geschenk zu öffnen, um Seligkeit und Unsterblichkeit im Hier und Jetzt zu erreichen. Bergson unterscheidet zwischen einem reinen Gedächtnis und einem Gewohnheitsgedächtnis. Das reine Gedächtnis erfasst die Erinnerungen, die uns prägen, die einzigartig sind, herausstechen aus dem Alltagsbewusstsein. Das geht in die richtige Richtung….
Unser Geist, unser Bewusstsein kann teilhaben an einem größeren Bewusstsein, kann dieses aktualisieren. Mir scheint, wir missverstehen das als Gedächtnis, und vielleicht ist es auch so, dass wir erst über unser Gedächtnis hinauswachsen müssen, um wirkliches Bewusstsein zu erlangen. Erinnerung ist dann nicht die Suche im eigenen individuellen Gedächtnis der Gewohnheit, sondern spirituelle Erfahrung. Denn alles ist immer schon überall da. Es geht nur um die Zugangsrelationen.
Referenz:
Joshi, Kireet. The Portals of Vedic Knowledge
Bergson, Henri. 1990. Matter and Memory. New York: Zone Books.