Vollmond

Es ist Vollmond in Indien. Zeit für Selbstreflexion, Meditation und innere Einkehr. Ich habe eigentlich noch nie wirklich über den Tod nachgedacht. Er war für mich immer eine Grenze, das, was unsere Existenz negativ definiert. Die Endlichkeit wirft uns auf uns selbst zurück, so dachte ich. Ich stimmte hier ein wenig mit Heidegger überein. Etwas jenseits des Todes zu denken, schien mir immer willkürlich, naiv, romantisch, eskapistisch und leichtgläubig… Nur in der existenziellen Reflexion schien er mir sinnvoll. Die Toten waren daher einfach tot, der Gedanke, dass sie irgendwie nach dem Tod weiterexistieren oder vor der Geburt schon existiert haben, erschien mir als eine wichtige Frage, deren Beantwortung aber unsinnig war, da diese Grenze eben als absolut definiert ist. Jene, die davon berichteten, sie hätten sie überschritten und seien wieder zurückgekehrt, konnte ich gut als esoterisch abtun. Das fiel mir nicht schwer, und es schien mir richtig.

In der Meditation sieht das aber ganz anders aus. In der Meditation klärt sich das Bewusstsein, es löst sich von der Außenwelt und dem Körper, indem es alles ins Bewusstsein holt. Die Sinne werden zu Sinneseindrücken, die Außenwelt wird zu reinem Sein, Bewusstsein wird zu Bewusstsein an sich, es erkennt, dass es nicht eine Reaktion auf die Welt ist, sondern ihr Ursprung. Es ist ihr Ursprung, weil es identisch ist mit dem Bewusstsein an sich, jenem Bewusstsein, das alles ist. Es gibt kein Teilbewusstsein, es gibt lediglich Bewusstsein, das in Ignoranz lebt. Wenn es aus dieser Ignoranz hinaustritt, so erkennt Atman sich als Brahman, das selbst eins ist mit dem Bewusstsein, das das Universum hervorgebracht hat. Anders kann es nicht sein. Wie sollten ein paar Kilo Materie einen kleinen Teil von Bewusstsein hervorbringen, das unverbunden ist mit anderem Bewusstsein, das nicht in einem größeren Bewusstsein eingebettet ist? Wie sollten diese paar Kilo Materie, wenn sie zerfallen, Bewusstsein mit sich begraben? Was ist das für eine merkwürdige Vorstellung? Ein paar Kilo Gehirn in einem biologischen Körper würden einfach so Bewusstsein hervorbringen, in subjektiver Form, unvollkommen und vereinzelt, unfähig, sich mit anderem Bewusstsein zu verschmelzen, um dann im Nichts zu verschwinden?

Stattdessen stellt sich mir die Frage nun ganz anders. Wenn mein Bewusstsein der Grund aller Existenz ist und immer schon alles in sich enthält, dann ist der Pfad des individuellen Lebens eine Möglichkeit, eben dies zu erfahren. Dies zu realisieren ist vielleicht der Kern von Erleuchtung. Was bedeutet das aber in Bezug auf andere Leben? Jene, mit denen ich das Jetzt teile, aber auch jene, die vor meiner Zeit waren, während meines Lebens dieses verließen, und jene, die kommen werden, wenn meine Zeit hier vorbei ist? Es gibt ja keinen Anfang oder Ende eines Bewusstseins im eigentlichen Sinne, wenngleich jenes Bewusstsein in dieser Existenz an Leben gebunden ist.

Bewusstsein existiert losgelöst vom Leben, selbst von Leben in einem reichen Sinne, jenes Leben das nicht die bloß biologische Lebensform meint, sondern Leben als Pfad des Bewusstseins in einem biologischen Körper: Lebensenergie (Élan vital, Prana), die Welt der Gefühle und des Herzens, die Ebene des Denkens, das auf die Welt gerichtet ist (Manas), und das Denken, das sie reflektiert, analysiert und versteht (Buddhi), ebenso wie das Denken, das die Welt betrachtet und im größeren Zusammenhang einordnet (Vijnana), und jene Erfahrung, die uns mit dem höheren Bewusstsein verbindet (Satchitananda, jene drei Ebenen, die sich der Sprache weitgehend entziehen und nur in der Erfahrung sich manifestieren). Jenes Leben, das sich noch weiter erstreckt in die Welten der Yogas, des Körpers, der Künste, der Architektur, des richtigen Lebens – das kann ich erkunden und ausleuchten. Und wie steht es aber mit dem Leben der anderen und jenen, die nicht in meiner Zeit sind?

Sie sind doch real, sie existieren immer schon und hören nicht auf zu existieren. Sie verlassen lediglich diese Welt der Selbsterfahrung, sie nehmen die gesammelten Erfahrungen in sich auf, und wenn sie diese Welt verlassen, dann gehen sie zum Mond, sagen die Upanischaden. Dort können sie den Reichtum an guten Taten genießen, bevor sie wiedergeboren werden, das heißt, bevor sie wieder in die Welt der Erfahrungen eintauchen. Jener Zwischenzustand im Mond, der Tiefschlaf, der dem nächtlichen Schlaf nur oberflächlich ähnlich ist, ist eine Verbindung mit den Göttern, sagen die Upanischaden. Es ist letztlich die Verbindung mit Brahman, und jene Verbindung ist tiefer als das Identischsein mit Brahman, was jetzt nur für den rationalen Geist ein wenig widersprüchlich klingt.

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