Ich habe ja nicht viel mit nach Indien mitgenommen, einen Rucksack voll, das meiste Kleider, Bücher, Technik. Ich habe aber einen guten Kopfhörer eingepackt und mir nun eine externe Handy Hifi Soundkarte von Tempotec für den USB-C Ausgang gekauft, ganz billig war die nicht, sie ist aber hervorragend. Ich habe mich sehr gefreut, als sie heute angekommen ist und natürlich habe ich sie gleich ausprobiert. Was für ein zwiegespaltenes Erlebnis.
Die Musik hat gleich Erinnerungen hervorgerufen, ich habe in der Musik geschwelgt. Ich dachte an Husserl, der sehr schön beschreibt, wie das Jetztbewusstsein immer aus der Erinnerung (Retention) und der Erwartung (Protention) besteht. Das macht für Musik auch sehr viel Sinn, es ist wichtig, sich zu erinnern, was die letzten Sekunden oder Minuten passiert ist und es ist wichtig zu antizipieren, dass es weitergeht, wenn auch vielleicht ganz anders. Sonst kann man einfach keine Musik hören. Dies ist aber scheinbar das genaue Gegenteil dessen, auf das es bei der Meditation ankommt.
Hören
Damit ich mein kleines Ich abstreifen kann, muss ich mir gewahr werden, dass das Ich eigentlich gar nicht existiert, dass seine Sinne nicht ihm gehören, dass im Sehen nur das Sehen selbst ist, im Hören nur das Hören selbst. Der Geist hat Gedanken, die sind aber selbst nur Gedanken. Das Jetztbewusstsein, so wie Husserl es beschreibt, kann keinem Ich gehören. Wer hört da also? Das kleine Selbst, das sich selbst viel zu wichtig nimmt?
Nur in der Aufgabe im Selbst – Brahman – kann das Bewusstsein wahrhaftig sein. In den alten und neuen Schriften heißt das Bliss. Musik hören im Zustand von Meditation, was kann das sein? Das Erkennen von Strukturen, Komposition, Erwartungen und Erinnerungen, all das sind ja eben jene Elemente des Bewusstseins, die es abzustreifen gilt. Ist das Hören von Musik also ein Pfad, der von der Erkenntnis wegführt?
Oder gibt es doch eine höhere Funktion im Musikhören. Ist das vertieft sein in Musik, der Zustand, in dem wir ganz Musik sind, mit ihr durch die Zeit gleiten, ohne zu denken, aber doch ganz und ganz in Musik sind, ein Zustand, der dem einer Meditation ähnelt? Ist dieses erfüllte Hören von Musik Bliss? Freilich, es gelingt nur selten, sich so in Musik zu vertiefen. Manchmal kann das tranceähnliche Zustände annehmen, manchmal ein hoch konzentriertes Bewusstsein eines Weltzusammenhangs. Erzeugt wird es durch das Zusammenspiel der Komposition eines Komponisten oder einer Überlieferung, den Aufführenden und der Zuhörer. In der technischen Aufnahme ist das Verhältnis verzerrt, aber prinzipiell noch da. Musik ist semiotisch gesehen immer abstrakter Weltbezug und zugleich die direkteste aller Kommunikation – Vogelgezwitscher.
Wellen
Auf einer anderen Ebene haben wir es bei Musik mit Klangwellen zu tun (bei visueller Kunst mit Lichtwellen). Wir selbst sind wohl aus einem Atomgitter, das zu 99 % aus nichts besteht. Ein Ich, das etwas anderes wahrnimmt, gibt es da nicht. Es gibt nur die Ebene der Immanenz, reiner Existenz in der diese Kräfte aufeinander wirken. Schön, dass sich dabei die Illusion eines Ichs ergibt. Mir gefällt das, es ist aber ein Trugschluss, oder zumindest eine verkürzte Sichtweise. Dieses Ich, das in diesen Kraftfeldern hervorscheint, ist ein Ich, das die Immanenz transzendiert, es kann Verbindungen mit weit Entferntem herstellen, über Raum und Zeit hinweg. Das ist es vielleicht, was Deleuze die Deterritorialisierung und den Flug der Linie nennt. In diesem Netz also höre Ich. Vielleicht ist Musik zu hören, sich seines selbst als selbstlos bewusst zu werden.
Atman
Ist es aber möglich, mit Musik auf die Ebene des Brahman Bewusstsein zu gelangen? Ist der Götterreigen, sind die himmlischen Klänge, das Requiem und Oratorium Zeuge eines göttlichen Bewusstseins? In der christlichen Kirchenmusik ist es wohl immer nur ein Klangraum des Jenseits, ein Raum, der erst nach dem Tod erreicht werden kann und von dem die Musik einen Vorgeschmack liefert. Das ist ein wenig traurig. Ich habe da das Bild von auf Wolken sitzenden, Harfe spielender Engel.
Die Aufgabe von Atman in Brahman, die Erkenntnis, dass alles nur eins ist, ist da eine ganz andere. Indien ist laut, die Fanfaren in den Tempeln schreiend, die Ragas hingegen kontemplativ meditativ. Ich habe da immer das Gefühl, dass es da nicht um eine/n Künstler:in geht, sondern dass hier etwas manifestiert wird. Ein wenig wie der OM Chor. Es ist die umgekehrte Wirkrichtung. Nicht der Mensch erzeugt einen Barocken Raum, in dem das Göttliche besungen wird, sondern das göttliche Bewusstsein steigt durch die Aufführung herunter. Oder anders formuliert, die Immanenz wird durchströmt, durchströmt sich selbst.
P.s.: Ich schreibe dies während ich Schubert’s Streichquintett in der Aufnahme mit dem Quartetto di Cremona höre.