Wenn ich ein Buch lese, einen Film schaue, in einem Gemälde versinke oder an einer Performance teilnehme, was passiert da eigentlich genau? Es ist doch so, dass ich etwas erlebe, in mir werden Bilder, Gefühle und Erlebnisse geweckt. Stell dir einen Film, ein Buch, ein Theaterstück oder ein Gemälde vor, in dem es um menschliche Beziehungen, Action, Geschichte oder Märchen geht. Du sitzt also irgendwo und schaust auf etwas, das eine Art Geschichte erzählt. Nun, was ist der Unterschied zwischen dem Anschauen einer Geschichte und einer Kontemplation, sagen wir, wenn du auf den Grund eines klaren, lebendigen Sees schaust, in dem Fische und Pflanzen, Steine und Sonnenreflexionen zu einer Kontemplation über das Universum einladen? Ist es nicht so, dass das eine, die Kunst von einem anderen Menschen geschaffen, eine Geschichte erzählt, und die Natur, die ganz anders erschaffen ist, eine andere Geschichte erzählt? Ein Unterschied scheint die Zeit zu sein. In der Kunst kann der Künstler Raum und Zeit gestalten, die Erzählung kann springen, der Raum durch einen Schnitt wechseln, ein Gefühl ohne Übergang zu einem anderen wechseln. Das bunte Treiben des Kosmos, das seine Geschichte erzählt, läuft für uns jedenfalls in einem Raum-Zeit-Kontinuum ab. Wir können uns darin schneller oder langsamer bewegen, wir können fliegen oder langsam spazieren, aber wir können die Zeit nicht wechseln.
Was wir aber können, ist mittels unserer Erinnerung, unseres Verstandes und unserer Wahrnehmung verschiedene Elemente aus unserer Umwelt zu fokussieren und in unserem Bewusstsein zu verknüpfen. Diese Erfahrungswelt macht unser Wach- und manchmal auch unser Traumbewusstsein aus. Wir bringen in die Welt ein Bewusstsein mit.
Nun haben wir schon eine ganze Menge verschiedener Rollen hier: ein Mensch, der als Betrachter die Welt erfährt, ein Künstler, der seine Erfahrung ausdrückt und für andere erfahrbar macht, und die Welt selbst, die in ihrer Ausdehnung in Raum und Zeit die Grundlage für jene Erfahrungen bietet. Wir können direkt mit der Welt in Kontakt treten, über sie reflektieren und ihren tieferen Sinn erfragen. Wir können versuchen, eine Verbindung aufzunehmen zu dem, was die Welt im Inneren zusammenhält, d.h. ein Prinzip, eine Kraft, einen Ursprung zu erfahren, der über das hinausgeht, von dem ich Teil bin. Dieses Darüber-Hinausgehen ist nun ein wenig mit Vorsicht zu betrachten, da es sofort die Frage nach Dualität aufwirft. Ist etwas jenseits all dessen, von dem ich Teil bin, oder ist das Ganze, von dem ich Teil bin, in Form von Immanenz das Ganze, das als solches als Transzendent gedacht wird, aber nicht ist?
Die Frage nach der Dualität ist hier wichtig, denn von hier aus können wir fragen, was die Rolle der Kunst wirklich ist. Ist Kunst etwas, das eine Art Welt erzeugt, in die der Betrachter eintauchen kann, als etwas, das anders ist, das mir gegenübersteht, eine Illusion, eine Repräsentation, eine Simulation? Oder ist die Kunst Teil der Welt in dem Sinne, dass das Bewusstsein, das sie geschaffen hat, etwas zum Ausdruck gebracht hat, das zumindest strukturell jeder von uns erfahren kann? Und das, was die Kunst dann hier als besonders auszeichnet, ist die Möglichkeit, es auszudrücken in einem Medium, das unabhängig ist vom Bewusstsein des Künstlers.
Das ist ja ganz erstaunlich. Es gibt da nun verschiedene Möglichkeiten, darüber nachzudenken. Ich kann Kunst verstehen als ein Zeichensystem, d.h. ich kann es semiotisch betrachten, wie eine Sprache. Ich identifiziere Elemente des Kunstwerkes und bringe sie vor mein inneres Auge in Form von sprachlichen oder semiotischen Bewusstseinsstrukturen – sei es visuell, auditiv, geschmacklich, körperlich oder geruchlich – je nachdem, was hier das dominierende Medium ist. Ich kann also sagen: „Ich sehe oder höre oder schmecke x.“ Dieses x, wenn vorher von einem Künstler ähnlich wahrgenommen, wäre der Gehalt des Werkes. Die meisten Kunsttheorien bleiben hier stehen und konzentrieren sich nun auf die formalen Elemente von x. Ist x interessant, neu, überraschend, provokativ, emotional etc.?
Das, was hier zugrunde liegt, ist jedoch Bewusstsein an sich. Bewusstsein erfährt, kreiert und teilt. Die Welt an sich entfaltet sich im Kunstwerk auf eine ganz besondere Weise. Das Kunstwerk bietet uns die Möglichkeit, über die Erfahrung von Welt an sich nachzudenken und sie in der Erfahrung selbst als sublim, als Glückseligkeit, als transzendent zu verstehen. Wenn es sich um Kunst handelt, die sich kritisch mit der Realität auseinandersetzt und uns vor Augen führt, was nicht gut läuft, wo Leiden ist und Ungerechtigkeit herrscht, so ist das zwar schwerer zu akzeptieren, bleibt aber qualitativ ebenfalls jene Erfahrung.
In Indien spricht man hier von Rasa, wörtlich Geschmack. Es bezeichnet aber genau jene Erfahrung, die mittels Ausdruck zwischen Künstler und Publikum geteilt wird, die jedoch im Kern auf das allgemeine Bewusstsein, die Immanenz, Brahman verweist. Kunst ist somit ganz wesentlich nicht bloß in der materiellen Welt sowie der Welt des Lebendigen, des Wissens und des Intellekts verankert, sondern reicht in den Bereich des Kontemplativen, Meditativen hinein. Sie ist Teil von Satchitananda.
Ich merke, dass ich müde geworden bin, Kunst rein formal zu betrachten. Das geht am Kern der Kunst und sogar am Kern unserer Existenz vorbei. Kunst ist bloß eine Ausdrucksform, die sich Brahman gegeben hat. Kunst ist immanent, sie ist ein Knoten, der auf einer materiellen Basis, dem Werk, Verschiedenes verknüpft und Linien erzeugt. Die Erfahrung dessen ist für jeden etwas anders, deshalb ist ein Sprechen und Schreiben darüber nur bis zu einem bestimmten Grad sinnvoll. Das, worüber man nicht sprechen kann, darüber soll man schweigen. Das heißt aber nicht, dass es da nichts gibt. Im Gegenteil, hier wird es erst richtig interessant.