Seit einigen Wochen lebe ich mit einer neurotischen Hündin zusammen. Sie bellte sehr viel, solange sie mich noch als Fremden wahrnahm. Sie hielt Abstand, war verängstigt. Nach einigen Wochen hat sie mich akzeptiert, nähert sich und will gestreichelt werden. Nun liegt sie vor meiner Tür und hält Wache; sie beschützt mich. Was ist passiert? Ich habe meine Einstellung zu ihr nicht verändert. Ich habe wenig Bezug zu Hunden und schenke ihr auch wenig Beachtung. Ich bin relativ indifferent. Bei ihr hat sich aber etwas Grundlegendes geändert. Ich kann sie schlecht fragen, wir sprechen nicht die gleiche Sprache. Doch bin ich wohl Teil ihrer Welt geworden. Sie erinnert sich an mich, ich bin ihr vertraut geworden. In ihrer Welt war ein Fremder, eine Bedrohung; inzwischen bin ich ein Vertrauter, Teil ihrer Welt, vielleicht eines Tages auch ein Freund. Die Möglichkeit besteht.
Wie kann ich Teil einer Welt werden, die die Welt eines anderen ist? Ich denke, das hat viel mit Gedächtnis zu tun. Ich werde Teil der Erinnerung anderer. Das Gleiche gilt natürlich für mich. Eine neue Erfahrungswelt baut sich auf, besonders wenn ich in eine Welt ziehe, z.B. von Europa nach Indien. Alles ist neu, fremd; ich habe keine Angst, bin eher fasziniert und neugierig. All die neuen Eindrücke – die Objekte und die Natur, die Menschen und die Kultur – werden Teil meiner Erinnerung. Sie werden integriert in das, was meine Welt ist.
Ich habe die letzten Tage einen Workshop zur Tantra-Philosophie besucht. Ich habe die 36 Tattvas gelernt, einige neu Meditationstechniken, den Unterschied zwischen westlicher Wissenschaft und Shastras (Wissenssystemen). Ich hörte Berichte von Dingen, die in der westlichen Welt als unmöglich gelten (z.B. Alchemie und Telekinese). Im Kern geht es in Tantra um das Verhältnis zweier Kräfte: Shiva und Shakti, und dies auf allen Ebenen des Seins, d.h. auf der materiellen Ebene, der Ebene des Lebens, des Bewusstseins, des Geistes, der Spiritualität, des Kosmos, der reinen Existenz… Es geht darum zu verstehen, dass das, was die Welt im Inneren zusammenhält, nicht die empirische Wissenschaft ist. Die empirische Wissenschaft ist die Methode, die unser Geist seit der Moderne relativ gut beherrscht; sie erklärt aber sehr wenig von dem, was unsere Lebenswelt ausmacht.
Was macht aber unsere Lebenswelt aus? Es ist die innere Erfahrung, und die Zugänge dazu gehen über Reflexion, Hingabe, Meditation, Yoga. Tantra scheint hier undogmatisch zu sein. Jeder Weg ist okay: Werte niemals den Pfad anderer, schließlich ist die Welt wesentlich größer und komplexer, als sich das einer von uns auch nur vorstellen kann. Schicksal und Zufall stehen in einem komplexen Verhältnis; spirituelle Praxis, Sadhana, zeigt den Weg.
Mich interessiert im Moment aber das Gedächtnis und die Erinnerung. Das Gedächtnis ist das Gefäß, die Erinnerung der Inhalt, die Erfahrung seine Geschichte und Struktur. Erinnerungen sind Bilder; sie sind in uns und können aktiv erinnert werden, ungefragt auftauchen, mehr oder weniger zufällig assoziiert werden. Sie bilden unsere Identität. Und so, wie die Welt außerhalb von mir Teil meiner Erinnerung wird, so werde ich natürlich Teil anderen Bewusstseins, wenn ich Teil jener Erfahrung war. Und so, wie ich vieles vergesse, werde ich auch vergessen. Das ist okay. Manchmal jedoch prägt sich etwas ein und wird ein integraler Bestandteil.
Ich komme langsam zu dem Punkt, den ich hier machen möchte. Wir haben Kulturtechniken, diese Erinnerungen, unser Gedächtnis, unsere Erfahrungen, unsere Identität und unser Weltbild zu teilen. Durch Sprache, Text, Bilder, durch Ausdruck mittels Tanz, Theater, Musik, Mantras, Tantras. In Indien gibt es 64 Kalas (Kunstformen). Über Jahrtausende wurden Techniken perfektioniert, den Prozess dieser Mitteilung zu verfeinern. Die daraus entstehenden ästhetischen Theorien sind vielfältig. Im Westen z.B. ist der Mechanismus der Repräsentation sehr wichtig; in der östlichen Tradition ist Rasa wichtiger, d.h. der Ausdruck von Essenz, dem Wesentlichen. Nun haben wir seit dem 19. Jahrhundert technische Apparate wie den Fotoapparat, den Kinematografen, das Grammophon als Erweiterung älterer Techniken des Druckes. Wir haben also eine Technik gefunden, Gedächtnis nicht nur zu materialisieren (das tun ja viele Kunstformen), sondern dies auch zu automatisieren und zu reproduzieren. Das hat, denke ich, eine große Verwirrung gestiftet.
Gilles Deleuze, unter Bezugnahme auf Henri Bergson, hat hier Klarheit geschaffen, indem er erkannt hat, dass Film Denken ist.