Schicksal, Karma, Kausalität, Naturgesetze, Determinismus – all dies sind verschiedene Ausdrücke einer Vorstellung, dass das Universum einer vorhersehbaren Logik folgt. Sie implizieren, dass das Geschehene folgerichtig aus dem Vorausgegangenen entstanden ist und dass das Jetzt ebenso durch das Vorherige bestimmt ist. Diese Logik halten wir für vernünftig und rational, logisch richtig. Wenn wir jedoch annehmen, dass die Zukunft ebenso durch das Jetzt und die Vergangenheit bestimmt ist, so tun wir dies ab als Aberglaube, Irrationalität, Unwissenschaftlichkeit. Wir sträuben uns dagegen mit aller Macht – jedenfalls in westlichen Kulturkreisen.
Nichts von dem stimmt. Die Zukunft ist nicht determiniert, die Vergangenheit nicht rein logisch, rational, wissenschaftlich beschreibbar. Die Geschichtswissenschaft zeigt dies mit ihren Methodenstreitereien, die Psychologie bietet zahlreiche Paradoxien, die bis zu den Zenon-Paradoxien zurückreichen, die zeigen, dass Zeit keine messbare Größe ist, sondern als Dauer eine Größe der Erfahrungswelt, d. h. des Bewusstseins, ist.
“Alles sei vorherbestimmt, unser Schicksal stehe in den Sternen.” Diese Vorstellung ist eigentlich ein schönes Bild, da sie auf etwas Größeres verweist. Anstatt jedoch den simplifizierenden Sternendeutern das eigene Schicksal in die Hand zu legen, sollten wir dieses Bild als ein Aufzeigen von größeren Zusammenhängen verstehen. Der Kosmos folgt nicht unserer kleinen rationalen Logik, das Universum steht nicht in einem linearen Buch des Lebens, wo Satz auf Satz, Seite auf Seite, Ereignis auf Ereignis folgt, sondern das „Buch“ des Lebens ist aus heutiger wissenschaftlicher Sicht eher ein Quantenbuch oder ein neuronales Netz, mit Sicherheit jedoch etwas ganz anderes. Das ‚Buch‘, das in der prähistorischen Zeit, also vor der Erfindung der Schrift, der Zyklus von Sonne und Mond, den Sternen und den Jahreszeiten war, wurde durch die Schriftsprache eine Erzählung, eine mythologische Geschichte, die phänomenologische Erfahrungen sortierte und strukturierte. In der Neuzeit übernahm die Rationalität das Schwert und räumte mit Ockhams Messer den ontologischen Garten auf. Alles, was nicht rational erklärbar war, wurde auf den Prüfstand gestellt und eingeklammert. Einige Dinge ließen sich eben noch nicht rational erklären. Und weil dieser Vormarsch der Rationalität so erfolgreich war, da er die Wissenschaft beflügelte und den technischen Fortschritt speiste, wurden die zentralen Fragen nach Bewusstsein, der Seele, der Sinnhaftigkeit eben auf die hintere Bank geschoben. Ich denke, so langsam begreifen wir, dass das vielleicht keine gute Idee war. Jene neuen Ideen von Quantenphysik und neuronalen Netzen zeigen uns, dass es Alternativen zur linearen Kausalität, zum Determinismus, zum Schicksal und Karma gibt. Sie sind ähnlich komplex wie der Sternenhimmel. Wir gehen in gewisser Weise zurück zu einem Seinszustand, in dem wir akzeptieren, dass es Prozesse gibt, die sich unserer Rationalität entziehen, obgleich sie durch unsere Rationalität erst sichtbar wurden. Das ist ein wenig paradox.
Strukturell sind wir wieder in der Welt der Veden. Bewusstsein hat ein Modell von Wirklichkeit hervorgebracht, das in seiner Komplexität das überschreitet, was innerhalb seiner Axiomatik denkbar schien. Und genau hier liegt für mich die Frage nach Freiheit und Spiritualität. Es hat etwas mit Bewusstmachung zu tun. Einige Grundannahmen sind jedoch notwendig, nämlich dass das, was meine äußeren Sinne wahrnehmen können, nicht die ganze Realität abbildet. Intuitiv wissen wir das alle, und im Alltag leben wir auch so und reden auch so, nur im wissenschaftlichen Diskurs leugnen wir das. Hören wir also mal für einen Moment auf zu leugnen. Akzeptieren wir weiterhin, dass die materielle Welt nicht völlig willkürlich ist, sondern erklärbar ist, und halten wir fest an der Erfahrung von Bewusstsein und der Offenheit unseres Bewusstseins für Neues, für eine offene Zukunft. Versuchen wir nun weiterhin festzuhalten, dass dies kein unauflösbarer Widerspruch sein sollte, so stellt sich die zentrale Frage der Freiheit. Wir sind in einem Bewusstseinszustand, der aufgeklärt ist, phänomenal reichhaltig und offen. Dieser Zustand ist Teil des Buches des Lebens, jedoch nicht jenes etwas naiven linearen Buches, selbst nicht jener großen Bücher der Rigveda, Genesis, Kopernikus, Hawking. Es ist Teil Brahmans, Teil des Ganzen, Teil des universalen Bewusstseins. Auf den Lauf jenes universalen Bewusstseins, das sich unserem Bewusstsein entzieht, haben wir keinen Einfluss, es gehört nicht uns – ‚I am that‘. Das Einzige, was wir tun können, ist unseren Bewusstseinszustand sich reichhaltig entfalten zu lassen.
Es gibt Momente im Leben, in denen wir eine Ahnung davon haben. Wenn wir in extrem kritischen Situationen, wie fast-Unfälle oder Schockzustände, sind, erleben wir, wie sich Raum und Zeit verändern, unsere Wahrnehmung sich weitet und sich etwas öffnet. Für einen Bruchteil einer Sekunde, vielleicht für wenige Sekunden sogar, sehen wir in einen kosmischen Zustand, in dem die Zeit stillzustehen scheint, wo viele Elemente des Bewusstseins klar erscheinen, wo sich die Illusion einer Handlungsoption zeigt. In jenen Momenten sehen wir hinter die ‚Realität’. Eine Unbestimmtheit wird wahrnehmbar, wie bei Schrödingers Katze ist die Situation noch nicht eindeutig. Diese Unbestimmtheit ist es, was wir als den Freiheitsmoment einer Entscheidung empfinden. Ob dies nun eine Entscheidung ist, ist an dieser Stelle etwas akademisch. Wir werden herausgeschockt aus unserer Illusion von Realität hinein in einen Bewusstseinszustand, der versucht, das völlig Unvorhergesehene einzuordnen.
Ich möchte vorschlagen, dieses Bild als Einstieg zu nehmen, über Bewusstsein, Freiheit und das Buch des Lebens anders nachzudenken. Wir können akzeptieren, dass die kosmische Realität einem Prinzip folgt, und unser Bewusstsein kann die Erfahrung jenes Prinzips ausweiten. Das Buch des Lebens kann als solches erfahrbar werden, und wir als Teil jenes Buches können durch das „Aufschlagen“ einer Seite und die bewusste erweiterte Wahrnehmung unsere eigene Verankerung realisieren. Mir scheint es nun so zu sein, dass wenn wir den Moment auf eine höhere Ebene der Wahrnehmung erheben, sich die Optionen anreichern. Das Feld weitet sich, der Spielraum wird größer. Wir lösen uns aus dem Reiz-Reaktionsschema, Freiheitsgrade werden aktiviert. Es ist nicht mein Selbst, das agiert, mein Ego ist eine Illusion, aber das Bewusstmachen eines Ausschnitts der kosmischen Realität erzeugt Handlungsräume für das Leben an sich. Die Erfahrung, Teil davon zu sein, ist spirituelle Praxis, ist Bliss und Freiheit