Was heißt es, einen anderen zu verstehen? Es ist leicht, ein Gegenüber zu verstehen, wenn man einer Meinung ist, denn dann stimmt man sich einfach selbst zu, genießt es vielleicht sogar, das eigene Denken im anderen gespiegelt zu sehen, angereichert durch eine etwas andere Perspektive, bunter, lebendiger, energetischer, weil beide sich freuen, jemanden gefunden zu haben, der auf der gleichen Wellenlänge ist. Dieses Spiegeln, die Spiegelneuronen, geben uns ein Gefühl der Wertschätzung, des Gesehen-Werdens, einen Gleichklang und eine Vorstellung, dass man eine gemeinsame Basis hat, auf der man aufbauen und sich weiterentwickeln kann.
Ist das so? Was, wenn ich jemanden verstehen möchte, der ganz anders denkt? Wenn ich mit den Grundannahmen des anderen ganz grundsätzlich nicht übereinstimme? Was heißt dann Verstehen? Wenn jeder Satz und jeder Gedanke des anderen mein eigenes Denken infrage stellt und ich das Gefühl habe, alles als Unsinn abtun zu können, vielleicht sogar zu müssen, weil es meine Existenz untergräbt. Wenn ich dann aber zugleich in dem anderen einen liebenswerten Menschen sehe, den ich verstehen möchte – was heißt das dann? Wenn ein Atheist mit einem Gläubigen spricht, ein Rationalist mit einem Verschwörungstheoretiker, ein Naturwissenschaftler mit einem Mystiker… wie funktioniert Verstehen hier?
Es ist möglich, sich auf anderen Ebenen zu begegnen, auf der Ebene des Herzens z. B. oder auf der Ebene von Intersubjektivität, wahrzunehmen, dass es wirklich einen anderen gibt, jemanden, der ganz entschieden verschieden von mir ist und nicht die Illusion eines Verstehens vorspiegelt. Diese Herausforderung des Anderen – Hegel beschreibt das als Kampf auf Leben und Tod, Lévinas als eine ethische Begegnung – ist eine viel tiefere Begegnung, die ein anderes Verstehen einfordert.
Verstehen ist hier kein Spiegeln, keine Assimilation, sondern die Erfahrung der Andersheit, die eine echte Begegnung erst ermöglicht. Verstehen heißt dann, den Anderen als Anderen zu verstehen, und das, was der Andere sagt und tut, ist dann sekundär. Das Denken des Anderen wird also anders eingeordnet und kontextualisiert. Es geht nicht um Konsistenz, d. h. Widerspruchsfreiheit, sondern um die Möglichkeit, das Gegenüber zu sehen. Sehen heißt dann, mit anderen Augen zu sehen; eine Differenz fordert keine Auflösung oder Schlichtung, sondern ein Tiefergehen auf den Grund des Seins. Differenz ermöglicht erst Wahrnehmung und Identität; eine Einheit gibt es dagegen nicht im Zwiegespräch, sondern nur in spiritueller Erfahrung, die den Anderen dann mit einschließt.
Mit jemandem zu sprechen, der radikal anders denkt, kann also in die Tiefe führen anstatt in die Konfrontation. Dies ist jedoch nur möglich auf der Grundlage einer echten Wertschätzung. Was heißt aber dann Verstehen? Ist es das gemeinsame Suchen nach dem Grund? Heißt Verstehen dann, zu verstehen, wie der Andere sucht? Welche Pfade nimmt das eigene Denken und das Denken des Anderen? Berühren sich diese Pfade? Sind es Kreuzungen oder Weggabelungen, Zusammenführungen oder Parallelen? Sind die Begegnungen respektvoll und liebevoll?
Diese Erfahrung des Anderen, der nicht Teil meines Bewusstseins ist, der keine Illusion ist, sondern sich meinem Denken grundsätzlich entzieht, ist eine Versöhnung des Denkens mit der Welt. Denn die Erfahrung dieser Andersheit überwindet jeden Zweifel an der Realität. Die Realität ist keine Illusion; sie ist vielleicht radikal anders, als ich denke, aber sie ist real. Diese Erfahrung wird erst durch die Begegnung mit dem Anderen ermöglicht.