Verbindung

Verbindung

Die letzten zwei Jahre bin ich recht tief eingetaucht in die Upanishaden, habe etwas Yoga praktiziert und mich mit dem System des Yoga ein wenig beschäftigt. Ich bin eingetaucht in den eigenen Körper, die eigenen Sinne, das eigene Bewusstsein. Habe gesehen, dass es eine große Zahl von Ebenen gibt und dass es keinerlei Grund gibt anzunehmen, dass nicht noch mehr Ebenen existieren. Vor zwei Jahren noch hatte ich das meiste dessen, was ich hier erfahre, schlicht geleugnet. Es ist schön, das zu wissen. Die Welt ist viel größer, als ich immer gedacht habe, sie ist viel komplexer, bunter, lebendiger, tiefer. Und das scheint erst der Anfang zu sein.

Ein Kerngedanke der Lehren in Indien ist das Loslassen, nicht alles haben wollen und zu begehren oder abzulehnen. Die Welt einfach zu nehmen, wie sie ist, ist die große Kunst. Sie einfach zu genießen, wie sie ist, auch wenn sie nicht einfach ist, ist Seligkeit. In Meditation versinken und mit der Welt eins sein. Dieses Gefühl lässt sich auch aus der Meditation in den Alltag mitnehmen, denn essen müssen wir ja alle.

Das Grundgerüst der Tattwas

Die Erkundung des eigenen Körpers, des eigenen Bewusstseins, der eigenen Lebensenergie ist in den 24 Tattwas systematisiert. Das Selbst, sein Verhältnis zu Purusha (Seele), Prakriti (Urnatur), dem Buddhi (Intellekt), das Ahamkara (Ichbewusstsein), Manas (sinngebundenes Denken) verbindet die wesentlichen kognitiven und spirituellen Erfahrungsebenen. Es bleibt aber eine Erfahrung, die auf sich gestellt ist; sie sucht die Einheit mit dem Kosmos, transzendiert sich jenseits seiner selbst, um jedoch in der gleichen Existenz zu bleiben. Dvaita-advaita, die Dualität von Dualität und Nicht-Dualität, also eine komplexe Vorstellung von Immanenz, die getragen ist von reinem Bewusstsein, ihre Grundlage ist Brahman, das, was wir nicht wirklich denken können, in der spirituellen Erfahrung jedoch irgendwie zugänglich ist, auch wenn keines unserer Organe dafür ausgerichtet ist. Nur in der Synthese der Sinne, in der komplexen Erfahrung des reinen (interesselosen) Genießens, der Schärfung der Sinne, liegt ein Pfad, der steinig ist.

Das Schoene in Indien ist aber, dass es immer weiter geht. Irgendwo angekommen, bildet sich der kleine Verstand ein, etwas begriffen zu haben und in Worte fassen zu können. Doch hier, fast wie in einer dialektischen Umkehrung, eröffnen sich neue Ebenen.

Vor den 24 Tattwas kommen die 12 Tantra Tattwas. 5 reine (Śiva: reines Bewusstsein, absolut; Śakti: dynamische Energie, Kraft; Sadākhya: immer gegenwärtig, ewig; Iśvara: höchster Herr, Lenker; Śuddha Vidyā: reines Wissen, Klarheit) und 7 halb-reine Tattwas (Māyā: Illusion, kosmischer Schleier; Kāla: Zeit, zeitlicher Fluss; Vidyā: begrenztes Wissen, Bewusstsein; Rāga: Anhaftung, Verlangen, Leidenschaft; Niyati: kosmische Ordnung, Schicksal; Kalā: kreative Fertigkeit, Kunst; Purusha: individuelle Seele, Selbst), die die 24 unreinen Tattwas ergänzen. Die 24 Tattwas umfassen die 4 Antahkarana (innere Instrumente): manas (Geist), buddhi (Intellekt), ahamkara (Ego) und chitta (Gedächtnis oder Bewusstsein); die 5 Sinnesorgane (jñānendriya): ghrāna (Nase) für Geruch, rasana (Zunge) für Geschmack, caksus (Auge) für Sehen, tvāk (Haut) für Berührung, śrotra (Ohr) für Hören; die 5 Handlungsorgane (karmendriya): pāyu (Anus) für Ausscheidung, upasthā (Geschlechtsorgan) für Fortpflanzung und sexuelles Vergnügen, pāda (Bein) für Fortbewegung, pāni (Hand) für Greifen und Berühren, vāk (Mund) für Sprache; die 5 subtilen Elemente (tanmātra): gandha (Geruch), rasa (Geschmack), rūpa (Form), sparśa (Berührung), śabda (Klang); die 5 groben Elemente (mahābhuta): prthvi (Erde), jala (Wasser), tejas (Feuer), vāyu (Luft) und ākāśa (Äther oder Raum).

Das Faszinierende ist, dass die Erkenntnis, dass die Welt, so wie sie sich mir im Alltag präsentiert, nicht existiert (hier sagen alle immer, dass es Raum und Zeit nicht gibt), mit Maya beschrieben wird. Die Welt existiert, wenn überhaupt, als Wille und Vorstellung (Schopenhauer). Wenn ich das also erkannt habe und realisiere, dass ich aber anscheinend trotzdem irgendwie existiere, denn schließlich denke ich das ja gerade, dann muss es eine andere Art geben, die Welt zu sehen; die Welt muss anders beschaffen sein, als ich denke, es gibt Möglichkeiten in dieser Welt, die anders sind als die, die ich kenne.

Ich habe mich schon damit abgefunden, dass Zeit, Wissen, Kausalität, meine eigene Existenz grundlegend anders sind, dass ich meinen Sinnen nicht trauen, den Wissenssystemen nicht vertrauen kann. Die Logik der materiellen Welt ist eben auf jene beschränkt, das ist ok. Sie gilt dort weitestgehend. Was aber ist mit dem Begehren? Dem Begehren von Objekten (Essen, schöne Dinge, Vergnügen), oder dem Begehren des anderen? Durch Askese kann die Welt dessen, das ich begehre, ganz deutlich reduziert werden. Ich mache da für meine Verhältnisse schöne Fortschritte, auch wenn man das kaum einen großen Sprung nennen kann, schließlich ich sitze hier an meinem Computer…

Der oder die andere, das Intersubjektive oder die Einheit mit einem größeren Bewusstsein

In der Welt des Tantra sind Objekte und Subjekte jenseits des Schleiers von Maya zu sehen und es ist möglich mit ihnen zu interagieren, das ist die große Kunst. Magisches Denken, okkulte Praktiken, ekstatische Vereinigungen, das Verbinden von Dingen, die noch nicht verbunden sind, das Verschmelzen, Amalgamieren, das Herstellen von Gold aus Quecksilber, die Realität erweitern und ihre Feinstruktur zu beherrschen, das ist das Geheimnis des Tantra. Die großen Meister können Unglaubliches, sagt man. Im Kleinen jedoch können wir ja auch viel. Zum Beispiel, wenn wir einen anderen Menschen treffen und uns mit ihm oder ihr verbinden. Was passiert da eigentlich? Die äußeren Sinne tasten sich gegenseitig ab, eine Vorstellung des anderen entsteht, ein Austausch beginnt, ein Versuch, den anderen zu verstehen, wird unternommen. Und wenn es magisch wird, wenn die Augen funkeln und das Gesicht lächelt, wenn wir uns in den Augen des Gegenübers verlieren, dann tauchen wir ein in eine andere Realität, in ein Gegenüber. Ich hatte gelernt, dass wir nicht in den Kopf anderer hineinschauen können. Das scheint mir grundlegend falsch zu sein. Ich hatte dieses Unbehagen schon immer. In den Momenten tiefer Freundschaft oder des Verliebtseins können wir uns selbst transzendieren, eine Einheit mit dem Gegenüber bilden, uns vereinen, verschmelzen, eine Symbiose bilden. Es geht jedoch auch hierüber hinaus. Innerhalb einer Community, gemeinsam mit anderen, wird das eigene Bewusstsein Teil eines größeren. Das ist wohl die Gefahr von Sekten; wenn man da nicht gut aufpasst, werden schnell Gehirne gewaschen und unsichtbare Militärhelme aufgesetzt. Was ich aber positiv meine, ist die spirituelle Kraft.

Im Moment erlebe ich das in der Meditation, die sich aus der Gewissheit der Existenz eines anderen speist. Ich wache im Moment morgens um 4 auf und meditiere. Ich habe das vor Jahrzehnten vielleicht 2-3 Mal gemacht. Es sind besondere Momente, in denen das Bewusstsein, das direkt aus dem Schlaf kommt, eintaucht in die Meditation, bevor die Sinne sich mit der Welt auseinandergesetzt haben. Es ist schwer, schwerfällig und langsam, aber auch hoch sensibilisiert, jeder Nerv wird erfahrbar, jede kleine Unruhe spürbar und jede Verbindung nach außen wahrnehmbar. Ich realisiere, dass ich nicht alleine bin in der Welt; der Kosmos ist da, die Sonne wird bald aufgehen… aber auch die Erfahrung des Anderen ist da, die Präsenz von Bewusstsein eines anderen Menschen, eine tiefe Verbindung, jenseits von Raum und Zeit. Diese Art der Verbindung scheint mir eine tantrische zu sein. Diese Verbindung wahrzunehmen, auszuleben, zu stärken und durch Konzentration zum Scheinen zu bringen, ist das Entzünden des inneren Lichts.

Für diese Verbindung steht die Einheit von Shiva und Shakti. In der Alltagswelt, mit meinem Körper und den gesellschaftlichen Gepflogenheiten, ist diese Verbindung äußerst selten. Es mag sein, dass viele sie gar nicht kennen. Es ist eine Verbindung, die zuerst real geschieht: das gemeinsame Kaffeetrinken nachmittags, oder das Sichverlieren in den Augen des anderen, das gemeinsame Erfahren von Lebenswelt und Weltbild, ein gemeinsames Lachen oder eine geteilte Irritation durch hupende Motorräder. Aber auch die Gewissheit der Existenz des anderen, das Spüren von Nähe trotz räumlicher Distanz, das Denken an den anderen und das In-die-eigene-Präsenz-Holen. Die Ebenen, die sich verbinden, sind nicht nur die materielle, sondern auch die Lebenswelt, Bewusstseinswelt, spirituelle und kosmische Erfahrung des Selbst als Teil des Großen, in dem es eben auch einen anderen gibt.

Wie steht die Philosophie hier in Indien dazu? Ist das tiefe Mitgefühl, die Verschmelzung mit der Realisation von Maya vereinbar? Ist die tantrische Einheit eine spirituelle Einheit? Mir stellen sich diese Fragen, während ich seit Wochen Ragas höre und mir und dem anderen nachspüre. Ragas, ich schließe den Kreis ein wenig, sind die Urform indischer Musik und leiten sich aus dem System der Yogas ab. Sie sind spirituelle Erfahrung, Improvisation auf höchster Meisterschaft; sie bringen zum Ausdruck, wie sich Klang, d.h. Vibration, durch Konzentration und sinnliche Erfahrung im Bewusstsein formt und durch den Körper als Instrument jene kosmische Einheit erzeugt. Die musikalische Erfahrung, die Reflexion und Meditation, die Kopräsenz des anderen, das Verschmelzen und das Schaffen einer gemeinsamen Realität, die einen neuen Zukunftshorizont schafft, sind zutiefst tantrische Erfahrungen. Man muss kein Großmeister sein, um das zu erfahren. Ein wenig Sensibilität genügt wohl.

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