Vor einigen Jahren hatte ich in meinem Seminar einen Gastkünstler. Ein junger, erfolgreicher, sozial engagierter Künstler, der etwas verändern wollte. Er kam in unser Seminar, wir saßen alle in einem Kreis, und er fragte jede Student:in warum er/sie hier sei. Es war ein Seminar auf einem Campus einer Kunstuniversität für ein Auslandssemester, und so erzählten die Student:innen sie seien hier wegen der Kultur, oder der Erfahrung, um Frankreich kennenzulernen etc… aber er, der Gastkünstler, lies diese Antworten nicht gelten, fragte weiter: Sei ehrlich, warum bist DU hier? oder: Mach dir nichts vor warum bist du HIER? oder: geh ein bisschen tiefer: WARUM bist du hier? Jeder musste sich dieser Frage stellen. Ich lernte vor allen, wie schwierig es ist, diese Frage ernsthaft zu stellen. Dass es nicht leicht ist, die Frage zu beantworten ist, ist ja eh klar.
Wir alle sollten uns immer wieder mal diese Frage stellen. Warum sind wir eigentlich hier? Je nach Kontext gewinnt die Frage natürlich andere Dimensionen: politisch, sozial, ökonomisch, persönlich, perspektivisch, kollektiv etc…. Am Ende aller kontextuellen Fragen bleibt aber die nackte Frage. Es ist Frage nach dem Sinn des Lebens.
Nun rennen viele Menschen – gefangen in Alltagszwängen, aus denen es sehr schwierig zu entkommen zu sein scheint – einem Leben hinterher, das durch Konventionen oder medial vermittelte Konsumwelten bestimmt ist. Ich möchte das an sich gar nicht bewerten, das steht niemanden zu. Letztlich muss das jede für sich entscheiden, solange … und hier kommt nun die Frage, auf die ich hinaus möchte, solange die Gemeinschaft nicht leidet. Gemeinschaft ist nun etwas salopp gesagt, das kann vieles heißen, und das ist auch gut so. Es gibt aber eine Struktur, die seit der Antike immer wieder als Model herangezogen wird, das ist die Stadt.
Stadt
Wie soll eine Stadt aussehen, wie soll sie organisiert sein, wer übernimmt welche Aufgabe, gibt es dort Regeln, wenn ja, wie werden die von wem gemacht für wen und warum? Denn in einer Stadt leben Menschen zusammen, in einer Arbeitsteilung, die nicht entfremdet sein soll. Jede soll dort ihren Platz finden, der ihren Fähigkeiten und Erwartungen an ein gutes Leben gerecht wird.
Die Lekture von A. K. Coomaraswamy hat mich heute wieder mit diesem Gedanken konfrontiert, er fragt in einem Essay nach der Zivilisation. Platon kam zu dem Schluss, dass letztlich nur ein Philosophenkönig wisse, was für die Gemeinschaft und die Stadt gut sei, denn nur er oder sie, die Philosophenkönigin würde sich losgelöst von Machtinteressen und persönlichem Vorteil um die Bewohnerinnen kümmern können. Nur sie könnte sicherstellen, dass die inneren Werte eines jeden sich frei entfalten können. Das klingt sehr verkopft, und auch ziemlich autoritär, selbst wenn der Philosophenkönig Autorität verbieten würde.
Im Kapitalismus wird das alles über das Einkommen gesteuert. Angebot und Nachfrage bestimmen, wer wie viel bekommt und wer wo einen Platz findet. Aber ist das dann auch der Platz, der bei der Frage danach, warum Du hier bist, auch der richtige ist? Ist die Frage nach dem Platz überhaupt so wichtig? Dabei geht es in der Welt der Werbung nur darum, wie Du Deinen Platz durch mehr Konsum verbessern kannst. Das nervt inzwischen sehr viele und es ist auch klar, dass der Planet das nicht mehr lange mitmacht, und die KI das wahrscheinlich auch nicht lösen wird.
Die Demokratie, das kleinste Übel, hat auch keine wirklich Antwort, es ist ein ewiger Verhandlungsprozess, der sich nach Mehrheiten richtet. Das ist gut für die Mehrheit, und das ist schon mal nicht wenig. Moderne Demokratien sind zudem von Prinzipien geleitet. Die stehen in der Verfassung, und können nur von Supermehrheiten, oder gar nicht mehr verändert werden. Es mag dafür gute Gründe aus den Lehren der Geschichte geben. Eine echte Antwort darauf, warum Du hier bist, ist das aber auch nicht.
Auroville
Nun könnte der Einwand gemacht werden, dass das ja eigentlich eine recht persönliche Frage ist, die politisch oder gesellschaftlich gar nicht geklärt werden muss. Dass die Stadt ja nur die Rahmenbedingungen liefern muss, damit sich jede dann dort ganz privat dieser Frage stellen kann, sich sein eigenes Haus bauen oder suchen kann. Das ist pragmatisch, aber keine Antwort. Es wird deutlich, die Frage ist alles andere als trivial. Und als, derjenige, der diese Zeilen schreibt, also ich, der Autor, möchte eigentlich auch nicht, dass irgendjemand diese Frage für mich beantwortet. Ich möchte aber in einer Stadt leben, wo diese Frage im Zentrum steht. Wo jede sich diese Frage stellen darf, kann und soll. Diese Stadt heißt Auroville, und ist alles andere als perfekt, gerade jetzt im Jahr 2023.
Diese Stadt ist für alle da, hat als Ideal keine Gesetzte oder Kapital und kommt auch ohne Werbung aus. Die einzige Bedingung, die diese Stadt stellt, ist, dass sich jede Bewohnerin als Dienerin des göttlichen Bewusstseins versteht. Für Einsteiger kann man da bei Mirra Alfassa oder Sri Aurobindo nachlesen, was das heißen könnte. Muss man aber nicht. Jede kann das für sich entscheiden, solange es keine organisierte Religion ist. Diese Einschränkung ist wichtig, und verweist auf die Ausgangsfrage: warum bist Du hier? Warum bist Du in diesem Leben? Die ganze Stadt existiert eigentlich nur, um diese Frage zu beantworten. Sie ist ein riesiges Labor, eine lebendige Universität ohne Verwaltungsstrukturen. Alles wird aus dieser Frage motiviert. Das eigene Leben ist in einem Akt der Hingabe als Voluntariat an eine große Idee ausgerichtet. Denn die Frage: Warum bist du hier? beinhaltet ganz wesentliche Begriffe. 1.) Ein Du oder impliziertes ich, das 2.) existiert, 3.) einen physikalischen Ort hat, 4.) als Frage eine Antwort einfordert und damit einen Akt der Reflexion, 5.) schließlich in Sprache formuliert ist. All dies verweist auf ein Bewusstsein, das über sich selbst hinauswächst. Ein Selbstbewusstsein, das sich auf seine eigene Existenz hin befragt, und wenn es das authentisch, aufrichtig, und mit Ausdauer tut, dann führt das auf einen spirituellen Pfad. Das ist der Sinn hinter der Einschränkung, dass jeder sich als Deiner des göttlichen Bewusstseins verstehen soll. Und deshalb gibt es auch keinen Platz für Religion. Es gibt einen Raum für Meditation, der ist offen und frei, und jeder mag da tun, was er/sie will. Meditation, oder Konzentration, ist immer und überall möglich, hat aber auch einen besonderen Raum in Auroville, nämlich das Zentrum. Dieser Raum ist weitestgehend leer, soweit es Leere überhaupt gibt. Der Raum ist schlicht und ist im Matrimandir.
Ich höre manchmal die Idee Auroville zu exportieren, auf der ganzen Welt viele kleine Aurovilles, also Communitys zu gründen und so etwas in der Welt beizutragen, das versucht solche wichtigen Freiräume zu schaffen. Geht das? Wie unterscheidet sich das von Künstlerdörfern, selbstverwalteten Bauernhöfen, Kibbuz oder revolutionären Kommunen? Auroville ist eines der ganz wenigen Experimente, das es über die erste Generation hinaus geschafft hat. Auroville steht im Moment aber vor seiner größten Herausforderung und Bedrohung. Alte gewachsene verkrustete Strukturen werden brutal durch neue äußere Strukturen aufgebrochen. Das ist unglaublich schmerzhaft. Diversität in Einheit, das Motto Auroville’s, scheint zentrifugalen Fliehkräften ausgesetzt zu sein. Mögen nicht mehr fehlgeleiteten Interessen die Gunst der Stunde dafür nutzen.