Von Gefühlen getragen

Ich lebe in einer hyperkomplexen Gesellschaft. Das merke ich schon an politischen und gesellschaftlichen Themen, die eigentlich niemand mehr so wirklich in ihrer Komplexität erfassen kann. Wir können uns an Prinzipen festhalten, z.B. Gerechtigkeit, Gleichheit, Freiheit, Rücksicht, Nachhaltigkeit etc.. Im Konkreten wird es dann aber auch schon schwierig. Soll ich mich in einem Konflikt auf die eine oder andere Seite schlagen, oder gibt es eine dritte Möglichkeit? Welche meiner eigenen Handlungsweisen soll ich ändern, und wie radikal soll ich das tun, welche Konsequenzen hat das? Oder wie soll ich mein Leben ausrichten? Welche Verantwortung habe ich, welche Verpflichtung und Erwartung, welche Ziele? All das ist verwoben mit sozialen und ökonomischen Rahmenbedingungen, die von politischen Rahmenbedingungen geprägt sind. Wie sollen wir da echte Entscheidungen treffen?

Mir scheint, dass wir oft in einem komplexen Netz irgendwie gefangen sind. Wenn wir etwas ändern wollen, dann zieht es hier und da, und in der Regel pendelt es sich dann irgendwie so ein, dass wir nicht allzu viel verändern wollen oder können. Diskutieren mit Freunden hilft, auch mit Spezialisten, je nachdem, um was es geht.

Zuhören

Ich höre viel zu, und in der Regel wollen Menschen, die reden auch gar nicht wirklich eine Antwort, sie wollen die Gedanken einfach mal laut sortieren. Das ist auch völlig o.k. Wenn man gut zuhört, findet das Gegenüber die Antworten selbst viel schneller. Auf die eigene Intuition zu hören, das Grundgefühl zu erkunden, das ist oft das schwierigste. Hier ist es am schwierigsten, Kompromisse zu machen.  Deshalb schauen Menschen dort auch am seltensten hin.

Neulich war ich bei einer Gruppe von sehr unterschiedlichen Menschen. In dem Abschlussplenum wurde ausgesprochen, dass diese Gruppe von einem Gefühl getragen war. Mir geht diese Phrase nicht mehr aus dem Kopf: ‚von einem Gefühl getragen zu sein‘. Sicher ist dies nicht ein Impuls, oder eine spontane Reaktion, auch kein tiefer Konflikt oder Schmerz oder Trauma, auch kein Gefühl des Begehrens, oder Euphorie…  Es ist etwas Existenzielles.

Heideggers Angst

Ich habe während meines Studiums Heidegger gelesen, seine Sprachmystik hat mich verführt. Mir war das unheimlich, aber auch unwiderstehlich. Die Frage, was Metaphysik sei, beantwortete er mit einem Gefühl, natürlich hoch reflektiert. Nach langen Ausführungen fragt er irgendwann: wo erfahren wir das Nichts? Das, so Heidegger, können wir schon rein logisch nicht positiv beantworten. Wir können das nur in einem Gefühl erfahren, das nicht reaktiv ist, sondern existentiell. Heidegger sagt: in der Angst. Warum Angst? Warum das Nichts? Warum diese Fixierung auf den Tod? Ich habe lange gebraucht, das wieder zu vergessen. Das Vergessen ist eine schwierige Kunst. Was ich aber für mich behalten habe, ist die Einsicht, dass es o.k. ist, bestimmte Fragen nicht rational zu beantworten. Das war für mich eine Offenbarung.

Mystik

Mir ist das mystische Denken oft sehr fremd: Die Grundannahmen (Axiomatik) sind oft alles andere als transparent, die Argumentationsform irrational oder rhetorisch, die Einsichten intuitiv, der Geltungsanspruch ausgreifend. Es gibt natürlich unzählige Arten mystischen Denkens. Im Kern geht es aber doch darum, die Grenzen des Wissens – und die gibt es – zu überschreiten. Da wo Wissen aufhört, fängt Theologie und Mystik an. Da sind wir von Gefühlen getragen. Deshalb sprechen diese Denksysteme so viel von Liebe und Tod, von Grenzerfahrungen. In der kapitalistisch geprägten ‚westlichen Kultur‘ ist das ein Tabu geworden. Bzw. wir haben das einfach verlernt.

Sri Aurobindos ‚Savitri‘ ist ein Opus Magnum, das diese Grenze überschritten hat. Sein philosophisches Werk ‚Das göttliche Leben‘ versucht auf existenzielle Fragen rational zu antworten, in Savitri antwortet er mystisch. Mir ist, außer Spinoza vielleicht, kein Autor bekannt, der das so radikal zweifach versucht hat. Die Schriften seiner Lebensgefährtin Mirra Alfassa ergänzen das.

 

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