Ich liebe die Komplexität, manchmal aber auch die radikale Vereinfachung – um etwas Klarheit zu bekommen. Z.B. die Ideengeschichte in der bildenden Kunst. In Europa, nach der großen Völkerwanderung, lässt sich die Kunstgeschichte als Ideengeschichte holzschnittartig skizzieren:
- In der mittelalterlichen Kunst wurden Geschichten visuell erzählt – hauptsächlich die Geschichten der Bibel. Die meisten Menschen konnten ja nicht lesen, schon gar nicht Latein, oder Griechisch. Die Holztafelmalerei der Altäre ist also eine Art Comic, und ebenso frei in der räumlichen Ordnung, Perspektive, Relation der Objekte.
- In der Renaissance wurden Konstruktionsprinzipien des Verstandes angewendet: Zentralperspektive, Farbtheorie, visuelle Effekte wie Sfumato etc… Es ging darum, zu zeigen, dass Künstler eine Illusion konstruieren können.
- Im Barock wurde der Raum gefasst. Der Kirchenraum wurde gefaltet, die Sinne stimuliert, die Malerei verführte, die (Kunst-)Gegenstände standen für sich selbst.
- Im Rokoko wurde der Adel belustigt. Teils sehr schlechter Geschmack und Innenarchitektur dienten als Spektakel – höfisch, dekadent.
- Der Klassizismus war eine ethische Korrektur. Die klassischen Werte und Prinzipen der Antike wurden wieder heraufbeschworen.
- Im Realismus ging es nun zum erst mal wirklich darum, die Welt, wie wir denken, dass sie sei, künstlerisch zu fassen. Hübsch und hässlich, banal und erhebend…
- Im Impressionismus dann die philosophische Reflexion auf den eigenen Wahrnehmungsapparat. Wir können ja nur das darstellen, was wir wahrnehmen. Die Realität jenseits unserer Sinne entzieht sich der Darstellung.
- In der Abstraktion, die eigentlich gar keine ist, geht es um innere Formen des Geistes.
- …
Es ließe sich eine beliebig lange Liste solcher radikalen Vereinfachungen anfertigen. Schön ist aber zu sehen, dass es hier eine dialektische Bewegung gibt. Etwas Neues wird ausprobiert, bis erkannt wird, dass eine Grenze erreicht wurde. Die Gestaltungsprinzipien verkehren sich in ein Gegenteil. Dies ist Fortschritt, sagen wir. Die ‚europäische Elite‘ wird immer ‚besser‘. Es mag etwas dran sein an dieser Ideengeschichte, aber was wird hier sichtbar? Was kann zu bestimmten Zeit warum nicht formuliert werden? Sind Delacroix Zeichnungen nicht reiner Impressionismus? Ist Grünewalds Porträtkunst nicht reiner Realismus? Und ist die Formensprache mittelalterlicher Kunst nicht reine, konkrete Kunst?
Kunsttheorien
Wer hat diese Geschichte erzählt? Vasari, Gombrich, Panofsky? Warum wurde sie so erzählt? Und wer hatte zuvor gesammelt und aussortiert in den Wunderkammern und Kuriositätenkabinetts, den Privatsammlungen von Schlossherren und den Priestern der Kirchenräume? Und was wurde in den Revolutionen verbrannt, das wir danach nie mehr zu Gesicht bekommen haben?
Ich habe immer ein philosophisches Interesse an den Medien der Kunst gehabt. Selten habe ich die Künstlerbiografien angeschaut. Die philosophische Kunstkritik eines Roland Barthes z.B. fand ich immer spannender, oder philosophische Theorie von Danto, Deleuze oder Foucault. Auch hier ließe sich eine lange Liste erzeugen, auch hier geht es nicht um die einzelnen Details. Die Perspektive ist wichtig. Kunst entsteht im Betrachter. Kunst ist neben ästhetischer Erfahrung für mich auch immer Denkarbeit – gewesen. Das hat sich für mich nun geändert.
Die Geschichte des Fortschritts oder der Reflexion, des Expertentums und der Kontextualisierung, die philosophische Medienanalyse und jede Art von Wertschöpfung, ideologischem Überbau und Machtstruktur verliert zunehmend mein Interesse. Die Kunst ist tot, lang lebe die Kunst. Das war nicht nur zur Zeit der Avantgarde ein beliebtes Motto. Es drückt aus, wie eine Gesellschaft mit Kunst umgeht. Sie ist ein Objekt, ein sehr interessantes Objekt, jedoch ein Objekt. Das Geistige in der Kunst, wie Kandinsky z.B. es sah, geht in der Ideengeschichte unter. Die Museen als säkulare Kunsttempel, und die Galerien als kapitalistische, ideologische Verstärker treiben der Kunst das Geistige aus. Wenn die Kunst im Betrachter liegt, dann ist sie überall, am wenigsten jedoch in den Museen, Galerien, Kirchen und Sammlungen.
Erwartungen
Vielleicht ist aber meine Erwartung einfach zu hoch. Kunst ist sei doch in unserer Kultur das höchste Gut, so lernte ich es. In ihr trifft die menschliche Erfahrung, das Wissen und Bildung, die Perfektion, Genuss und Reflexion aufeinander. Kunst ist die höchste Kunst. Ihr gebührt Respekt, sie ist Inspiration, im Genie vollkommen und für Normalbürger unfassbar.
Vielleicht sollten wir die Kunst wieder von diesem Podest nehmen und als Kunsthandwerk sich in Beliebigkeit verlieren lassen. Vielleicht sollten wir aber auch die Kunst als das enttarnen, was sie ist, immer auch eine Lüge. Einen gemalten Apfel kann ich schließlich nicht essen. Kunst ist für mich aber vor allem eins: Gegenstand von Meditation. Kunst ist Konzentration und Offenheit. Kunst verlangt nach Interpretation durch Anschauung. Nur so ist sie lebendig. Ich kann sie überall finden, auch in Museen, Galerien, Kirchen und Sammlungen.