Musik – Nāda-Brahman

Erste Begegnungen mit Ragas

Als Jugendlicher hörte ich stundenlang Ragas. Ich wusste gar nichts über sie. Ich schlug ein wenig nach: Mikrotonalität, Meditation, Tonfolge. Mehr verstand ich nicht. Es waren aber die tiefsten Musikerfahrungen – eine Meditation zur Musik. Bis heute führen mich Ragas in mein Inneres oder in tiefe Erkenntniszustände, die jedoch nicht rational sind. Eher ist es eine Art und Weise, in der Welt zu sein.

Musik als gemeinsamer Raum und reine Energie

Das Hören von Musik zieht uns alle in die Gefilde der emotionalen Landschaften, des Tagträumens, der ästhetischen Erfahrung. Es ist emotional, abstrakt, zeitlich; es erlaubt, die anderen Sinne ein- oder auszublenden, Erinnerungen abzurufen oder etwas zu vergessen. Wir können eine Zukunft erträumen, uns sehnen oder Emotionen ausdrücken – sie herauslassen.

Wenn wir gemeinsam musizieren, praktizieren, tanzen, gemeinsam hören oder auch nur Musik empfehlen, so betreten wir einen gemeinsamen Raum. Dieser Raum ist eine andere Dimension. Er hat keine materielle Referenz wie die anderen Sinne sie haben (z. B. in der darstellenden Kunst oder beim Kochen). Die Musik entspricht dem Äther, dem Raum an sich. Die Vibration bedarf eines physikalischen Trägers, ist aber selbst bloß reine Energie.

Musik, Bewusstsein und die vierte Realität

Wenn meine Sinne sich vermischen – der Geruch, die Berührung, der Klang, der Geschmack und das Sehen – so vereinen sich die Botenstoffe meines Nervensystems irgendwo in mir, vielleicht in meinem Kopf oder meinem Herz, und bilden dort eine Grundlage für Bewusstsein. Dieser Ozean des Bewusstseins, der sich aus den Sinnen speist, kann durch sie auf eine Realität zugreifen: Das nennen wir Wachzustand.

Im Traumzustand greifen wir auf eine andere Realität zu, eine Realität aus Erinnerungen, Gefühlen, Phantasien. Oder wir gehen in den Tiefschlaf, wo die Sinne kein Bewusstsein erreichen. Da ich jedoch weiter existiere, wie ich jeden Morgen erfahre, war mein Selbst anscheinend ganz woanders. Wahrscheinlich war es dort, wo die materielle Welt, wie wir sie verstehen, unwichtig ist. Wir waren im dunklen Ozean reiner Existenz.

In der Māṇḍūkya-Upanishad wird aber noch von einem vierten Zustand gesprochen – jener Zustand, der vielleicht als „erleuchtet“ bezeichnet werden kann. In diesem Zustand sind wir wach, aber nicht an unsere Sinne gebunden. Wir nehmen nicht wahr, träumen aber auch nicht, wir schlafen nicht und erfassen doch eine höhere Realität. Wir wissen um die Welt in einem tieferen Sinn. Ich sehe mein Inneres und die Welt als solche, ich verstehe, dass mein Alltagsbewusstsein funktional, aber beschränkt ist. Ich werde mir meiner Ignoranz bewusst. Ich weiß, dass ich nichts weiß. Ich bin eins mit der Welt, obgleich ich außerhalb ihrer zu sein scheine. Man könnte hier über die Ideen des Transzendentalen, der Advaita oder der Immanenz spekulieren. Das lasse ich aber lieber, da sich das in intellektuellen Spielereien verliert.

Musik, und für mich persönlich Ragas, haben etwas von dieser vierten Realität. Ich möchte hier ausdrücklich nicht sagen, dass Musikhören einem erleuchteten Zustand gleicht, und doch lege ich diese Parallele nahe. Ich schlafe nicht und nehme nicht wahr, ich träume nicht und bin hellwach. Ich fühle mich in einer Welt, die oftmals intensiver ist als die Realität. Manchmal flüchte ich mich in sie. Wenn ich aber hochkonzentriert höre, eins werde mit der Musik, dann leuchtet etwas in mir – in einer Reinheit und Klarheit, die ich sonst nur aus der Meditation kenne.

In der Musik identifizieren wir uns mit etwas. Die Musik ist ein Träger von etwas, zu dem ich werden kann. In der Meditation kann ich auch zu etwas werden; wenn es gut läuft, werde ich eins.

Ähnliche Beiträge

Beginne damit, deinen Suchbegriff oben einzugeben und drücke Enter für die Suche. Drücke ESC, um abzubrechen.

Zurück nach oben
DE
Powered by TranslatePress